Tumordiagnose bei Risikopatienten
In den vorigen Beiträgen wurde der Einsatz der Adrenalinzusätze 1:100.000 und 1:200.000 diskutiert. Generell gilt: Mit 1:200.000 macht man in der Regel wenig falsch. Doch gibt es ab und an Patienten mit Adrenalinkontraindikationen, für die in der Praxis ein adrenalinfreies Präparat bereitliegt. Eher ein Ladenhüter für seltene Fälle? Ein Plädoyer für „mehr ohne“.
In Deutschland leiden 44 % der Frauen und 51 % der Männer an Hypertonie, als kontrolliert lassen sich davon nur gut 23 % der Fälle bezeichnen [1]. Etwa 7 % der Frauen und 10 % der Männer (insgesamt knapp 6 Millionen Menschen) leiden an einer koronaren Herzkrankheit, 2,4 bzw. 2,6 % erleiden im Laufe ihres Lebens einen Schlaganfall [2]. Die stationäre Aufnahme aufgrund von Herzrhythmusstörungen steigt – von 2011 bis 2018 um allein 6,3 % [3]. Und das sind nur einige Zahlen aus der kardiovaskulären Statistik, hinzu kommen Schilddrüsendysfunktionen bei jedem Dritten [4], mindestens 8 Millionen Diabetiker [5] und viele weitere Patienten mit Erkrankungen niedrigerer Prävalenz. In Tabelle 1 sind die absoluten und relativen Kontraindikationen für Adrenalin aufgelistet. Auf Basis dieser Daten ist es doch erstaunlich, dass bei nur knapp 3 % der Lokalanästhesien ein adrenalinfreies Präparat Verwendung findet [6]. Denn all diese Risikopatienten sollten mindestens einmal im Jahr den Zahnarzt aufsuchen. Bei der Lokalanästhesie mag es zu wenigen lebensbedrohlichen Zwischenfällen kommen, doch es gibt sie. Und auch ein „Unwohlsein“ nach der Anästhesie trägt nicht dazu bei, das Vertrauen des Patienten zu gewinnen. Der vorliegende Fall einer Tumordiagnose soll zeigen, dass adrenalinfreies Articain in vielen Fällen eine risikoreduzierte Behandlung ermöglicht.
Patientenfall mit Tumordiagnose: Anamnese und Klinik
Ein 67-jähriger Patient wurde von seinem Hauszahnarzt in die Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz überwiesen. Der Grund war eine seit drei Wochen wachsende Schwellung der Innenseite der rechten Wange. Der Patient beklagte eine progrediente Verschlechterung der Mundöffnung und Foetor ex ore. Die Allgemeinanamnese ergab, dass er bereits an verschiedenen Vorerkrankungen litt – einem Diabetes mellitus (HbA1c 8 %; Medikation mit Metformin), einer mittelstarken arteriellen Hypertonie (170 mmHg systolisch und 105 mmHg diastolisch; keine Medikation) sowie einer Hyperthyreose (funktionelle Schilddrüsenautonomie, TSH-Werte > 4 mE/l; Medikation mit Propranolol (nicht-selektiver Betablocker)). Der orale Befund zeigte neben einem generell schlechten Mundhygienestatus eine ausgeprägte Schwellung und eine Leukoplakie mit hochgradigem Verdacht auf Vorliegen einer Neoplasie im retromolaren, bukkalen Bereich (Abb. 1). Das Staging erfolgte mittels Kopf-Hals-CT sowie Aufnahmen von Thorax und Abdomen. Lymphknotenmetastasen konnten ausgeschlossen werden (cT3, cN0, cM0).
Schmerzmanagement bei Biopsie zur Sicherung der Tumordiagnose
Zur Sicherung der Tumordiagnose war die Gewinnung einer repräsentativen, histologischen Probe notwendig. Für die Betäubung des umliegenden Weichgewebes bei einer Biopsie eignet sich in der Regel die Infiltrationsanästhesie. Im vorliegenden Fall gab es jedoch eine Besonderheit: Mehrere Faktoren sprachen gegen den Einsatz eines Adrenalinzusatzes. Vorrangig war es die Hypertonie, an der der Patient litt, welche in dieser Ausprägung noch eine relative Kontraindikation für das Katecholamin darstellt. Auch wird bei Vorliegen einer Hyperthyreose – zusätzlich zur Therapie mit einem nicht-selektiven Betablocker – sicherheitshalber der Einsatz eines adrenalinfreien Präparates empfohlen bzw. sogar als absolute Kontraindikation angesehen (s. Diskussion). Hinzu kam der Diabetes, der ebenfalls als relative Kontraindikation betrachtet wird (Tabelle 1). Im Hinblick auf eine mögliche Tumordiagnose beziehungsweise onkologische Erkrankung war der Patient in ASA-Klasse 2–3 einzuordnen [9]. Normalerweise ist die Infiltrationsanästhesie die Injektionstechnik, bei der ein zumindest geringer Adrenalinzusatz ratsam ist, um eine suffiziente Anästhesietiefe zu erzielen [10]. In diesem Fall jedoch handelte es sich um einen Eingriff von kurzer Dauer im Weichgewebe, weshalb 4%iges Articain ohne Adrenalin (Ultracain D ohne Adrenalin, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Frankfurt) bei den vorliegenden Kontraindikationen des Patienten gegen Adrenalin das Anästhetikum der Wahl war (Abb. 2) [11].
Bei kurzen, schmerzarmen Eingriffen kann adrenalinfreies Articain eine risikoarme und für den Patienten postinterventionell angenehmere
Anästhesie-Option sein.Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer
Inzisionsbiopsie und weiteres Vorgehen
Üblich ist die Gewebeentnahme mittels Inzisionsbiopsie. Die Probe darf jedoch keinesfalls aus dem nekrotischen Zentrum stammen. Aus diesem Grund erfolgte die Entnahme mit Skalpell und Schere leitliniengerecht aus der Progressionszone des Tumors (Abb. 3–4). Die Wundränder wurden mit Seide 4–0 adaptiert (Abb. 5). Die histologische Untersuchung bestätigte das Vorliegen eines Plattenepithelkarzinoms (PECA). Zum weiteren Vorgehen bei der Behandlung wurde ein interdisziplinäres Tumorboard einberufen, das die Entscheidung zur primär chirurgischen Therapie traf. Aufgrund der Multimorbidität des Patienten wurde von Seiten der Anästhesie ein postoperatives Intensivbett gefordert, was trotz Belastung der Klinik durch die COVID-19-Pandemie bereitgestellt werden konnte. Das PECA wurde anschließend mit einem Sicherheitsabstand von > 0,5 cm am histologischen Präparat zum umliegenden Gewebe reseziert. Des Weiteren wurde gemäß Leitlinie [12] eine elektive, bilaterale Neck Dissection der Level 1–3 durchgeführt. Nach der Resektion erfolgte in einem Eingriff die Rekonstruktion mittels eines mikrovaskulär anastomosierten Ulnaristransplantats.
Diskussion – wann ohne Adrenalin?
Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen sind definitiv keine Seltenheit in der zahnärztlichen Praxis – ob mit absoluten und/oder relativen Kontraindikationen für Adrenalin. In Deutschland wird in 97 % der Fälle Articain verwendet, das gerade für Risikogruppen Mittel der Wahl ist [6]. In diesem Fall lagen keine schweren absoluten Kontraindikationen für Adrenalin im kardialen Bereich vor, wie beispielsweise eine schwere Hypertonie (>180 mmHg), die den Verzicht auf Adrenalin unbedingt notwendig gemacht hätten. Doch die Kombination mehrerer Erkrankungen und der Sonderfall der Hyperthyreose ergaben ein eindeutiges Bild. Bei Schilddrüsenerkrankungen und Diabetes, die gut eingestellt sind, sind Zwischenfälle selten, weshalb diese (relativen) Kontraindikationen sicherlich in der Praxis auch einfach mal „unter den Tisch fallen“. Das Beispiel der Hyperthyreose zeigt aber – besser Vorsicht, als Nachsicht: Es gibt nicht ausreichend Daten zur Lokalanästhesie bei hyperthyreoten Patienten. Jedoch erhöht das vermehrt ausgeschüttete Thyroxin die Sensibilität adrenerger Rezeptoren gegenüber Adrenalin. Eine vermehrte Zufuhr kann daher schnell zu Symptomen einer Intoxikation (z. B. Tachykardie und Hypertonie) führen [13]. Aus diesem Grund wird die Überfunktion in Fachinformationen [14], genau wie der verabreichte Betablocker, als absolute Gegenanzeige aufgeführt und auch die Bundeszahnärztekammer empfiehlt in der Praxis sympathomimetikafreie Lokalanästhetika [15]. Atemwegserkrankungen erfordern ebenfalls eine Abwägung, denn bei Asthma-Patienten tritt die Sulfitallergie als absolute Kontraindikation gehäuft auf. Articain ohne Adrenalin – und damit auch ohne konservierendes Natriumdisulfit [11] – sollte daher in Erwägung gezogen werden [16].
Aber nicht nur bei Risikopatienten kann es Vorteile bringen, auf den Zusatz zu verzichten. Bei gesunden Patienten, bei denen eine wirklich nur kurze Anästhesie erforderlich ist, z. B. einfache Zahnpräparationen, ist eine viel länger als notwendig anhaltende Betäubung als Einschränkung im Alltag zu sehen. Tabelle 2 zeigt Indikationen, bei denen ohne Weiteres auf Adrenalin verzichtet werden kann. Generell wird ein Vasokonstriktor mit einer besseren Schmerzausschaltung in Verbindung gebracht. Tut es dem Patienten also ohne Adrenalin mehr weh? Es kommt auf die Technik an! Eine klinische, randomisierte Doppelblindstudie unserer Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass bei Extraktionen unter Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior mit 4%iger Articainlösung mit 1:100.000 im Vergleich zu Articain ohne Adrenalin lediglich Unterschiede in der Latenzzeit (7.2 min vs. 9.2 min) und der Wirkdauer (3,8 h vs. 2,5 h) bestehen. Nicht aber hinsichtlich der benötigten Menge, der Notwendigkeit einer zweiten Injektion, Injektionsschmerzen, perioperativer Schmerzen oder der postoperativen Analgesie. Hier stellt adrenalinfreies Articain eine echte Alternative dar, um die Dauer der Anästhesie nicht unnötig zu verlängern [17].
Bei der Infiltrationsanästhesie ist es dagegen in der Regel ratsam, einen zumindest geringen Adrenalinzusatz zu wählen, da die Weichgewebs- und Pulpenanästhesie ohne Adrenalin gegebenenfalls nicht ausreichend sind [18]. Bei der intraligamentären Anästhesie ist sogar auf eine Reduktion zu achten, hier können 1:200.000 oder „ohne“ zum Einsatz kommen, aufgrund von potenziellen Gewebenekrosen durch die starke Vasokonstriktion jedoch kein 1:100.000 [10].
Fazit
Bei Patienten mit absoluten Adrenalinkontraindikationen ist selbstverständlich ein adrenalinfreies Präparat zu nutzen. Bei relativen Kontraindikationen und deren Kombination sollte eine Nutzen-Risiko-Abwägung zwischen 1:200.000 und ohne Adrenalin erfolgen. Bei kurzen, schmerzarmen Eingriffen kann adrenalinfreies Articain eine risikoarme und für den Patienten postinterventionell angenehmere Anästhesie-Option sein. Das gilt insbesondere für die Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior. Auch gesunde Patienten können von der kürzeren Weichgewebsanästhesie profitieren. Die komfortable Schmerzausschaltung ist schließlich auch ein Aushängeschild für die Praxis. Deshalb: Mut zu mehr ohne!
Diese Kasuistik “Interforaminale Implantate bei Vorerkrankungen” wurde mit freundlicher Unterstützung von Sanofi nach einem realen Patientenfall aus der klinischen Praxis angefertigt. Bei ähnlich gelagerten Fällen ist die individuelle Therapieentscheidung durch die behandelnde Ärztin/den behandelnden Arzt maßgeblich. Die aktuellen Fachinformationen und Leitlinien sind zu beachten.
Der Experte
Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, M.A., FEBOMFS
Leitender Oberarzt/Stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de