Viel hilft nicht immer viel

Die richtige Lokalanästhesie beim Zahnarzt finden

Eine individuelle Dosierung des Anästhetikums, vor allem des Vasokonstriktors, sollte im Fokus jeder Lokalanästhesie stehen. Die Entscheidungsgrundlage für den Einsatz von 1:100.000, 1:200.000 oder adrenalinfreie Lösungen ist stets die genaue Anamnese. Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, Mainz, liefert eine Einordnung im Interview zur Kasuistikreihe „Darreichungsformen Articain“.


Lokalanästhesie Zahnarzt

Bei der Infiltrationsanästhesie sollte immer ein geringer Adrenalinzusatz genutzt werden. © diego cervo/stock.adobe.com


Herr Professor Kämmerer, Vasokonstriktoren sind aus der zahnärztlichen Lokalanästhesie nicht mehr wegzudenken. Welche Vorteile hat ihr Einsatz?

Kämmerer: Vasokonstriktoren sollten wenn möglich bei der Lokalanästhesie beim Zahnarzt zum Einsatz kommen, denn sie verengen – nomen est omen – die Gefäße im Applikationsgebiet, reduzieren so die lokale Blutung und verlangsamen die Elimination des Lokalanästhetikums vom Wirkort. Zudem verstärken sie dessen Intensität und verlängern die Wirkdauer.

Das heißt, je mehr, desto besser!?

Kämmerer: Stimmt, das klingt erstmal super: Bessere Übersicht im Operationsgebiet, weniger Schmerzen für den Patienten. Aber es ist eben auch der Vasokonstriktor, der, mehr als das Lokalanästhetikum selbst, für systemische Komplikationen verantwortlich ist. Adrenalin, der Vasokonstriktor der 1. Wahl, kann insbesondere in Kombination mit der körpereigenen Adrenalinausschüttung – zum Beispiel durch Angst oder Stress – unerwünschte Effekte hervorrufen. Das bedeutet also: Je mehr, desto höher das Risiko! Bei einem Zusatz von 1:100.000 steigt die Komplikationsrate im Vergleich zu 1:200.000 nachweislich an.

Welche Komplikationen können das sein?

Kämmerer: Die Symptomatik von Adrenalin ist auf die beta-adrenerge Wirkung der Katecholamine zurückzuführen. Allgemeines Unwohlsein, unter anderem Kopfschmerzen, Erblassen, Schwitzen, grippeähnliche Symptome können die Folge sein. Aber auch kardiovaskuläre Probleme wie eine Tachykardie oder eine Hypertension sowie ischämische Ereignisse, Tremor, Mydriasis, Hyper- oder Hypoglykämie. Zudem können sich medikamenteninduzierte Nebenwirkungen potenzieren.

Wie lassen sich diese schwerwiegenden Folgen vermeiden?

Kämmerer: Vor allem durch eine sachgemäße Verabreichung. Kontraindikationen sind im Vorfeld dringend auszuschließen. Und Sicherheitsmaßnahmen, wie eine exakte Dosiseinhaltung und die Aspiration vor der Injektion, müssen eingehalten werden.

Gibt es einen Standardablauf, nach dem Sie bei der Lokalanästhesie als Zahnarzt vorgehen?

Kämmerer: Da muss ich leider enttäuschen – ein 08/15-Vorgehen oder eine Dosierung nach dem Motto „Eines für alles“ ist obsolet. Die Entscheidung treffe ich immer individuell. Mit den folgenden vier Fragen vorab ist man aber schon mal auf dem richtigen Weg: In welchem gesundheitlichen Zustand befindet sich mein Patient? Welche Indikation liegt vor? Wo befindet sich der Applikationsort? Und welche Injektionstechnik eignet sich dafür am besten?


Ausgangspunkt für die Lokalanästhesie beim Zahnarzt ist also immer die Anamnese…

Kämmerer: Richtig, natürlich schaue ich auf mögliche Vorerkrankungen im Anamnesebogen, aber der ersetzt nicht das persönliche Gespräch. Die körperliche Belastbarkeit lässt sich durch die einfache Frage einschätzen, ob es problemlos möglich ist, ein Stockwerk Treppen zu steigen. Falls dies verneint wird, ist derjenige definitiv ein Risikopatient, auch für die Lokalanästhesie – ASA 3.

Bei welchen Vorerkrankungen ist der Einsatz von Adrenalin kritisch zu bewerten?

Kämmerer: In Bezug auf Adrenalin gibt es gar nicht so wenige absolute Kontraindikationen. Dazu gehören unter anderem eine bekannte Sulfitallergie, drei bis sechs Monate zurückliegende kardiovaskuläre Ereignisse wie Infarkt oder Insult, Engwinkelglaukom, Phäochromozytom, aber auch die Einnahme von bestimmten Antidepressiva. Hier muss ich auf den Adrenalinzusatz verzichten, bei relativen Kontraindikationen und geringer Belastbarkeit sollte zumindest reduziert werden. Als Faustregel würde ich sagen: Bei vorliegenden Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Asthma, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Schilddrüsenerkrankungen und Mehrfachmedikation lohnt es sich, genauer hinzusehen. Doch um das klarzustellen: Auch bei gesunden Patienten kann es je nach Eingriff sinnvoll sein, den Adrenalinzusatz zu reduzieren.

Wann ist dies der Fall?

Kämmerer: Zum Beispiel bei der Behandlung von Kindern, Schwangeren oder betagteren Patienten – aber auch Routinemaßnahmen bei gesunden Erwachsenen. Mal ehrlich, für die meisten Standardeingriffe wie Restaurationen oder ein Einzelimplantat genügt 1:200.000 vollkommen. Viel hilft nicht immer viel! Es ist ein Trugschluss, dass „forte“ 1:100.000 den Schmerz viel stärker ausschaltet als 1:200.000, es wirkt vor allem länger und verringert die Blutung etwas mehr. Das ist meiner Meinung nach nur bei langen und schmerzhaften chirurgischen Eingriffen wie einer Vestibulumplastik oder einem Sinuslift mit mehreren Implantaten indiziert. Bei kurzen, pulpenfernen Eingriffen von rund 20 Minuten dagegen kann ich – nicht nur bei besonderen Patienten – auch ganz auf Adrenalin verzichten. Zum Beispiel bei der Leitungsanästhesie und der intraligamentären Anästhesie. Mein Credo: So viel wie nötig, so wenig wie möglich!

Welchen Einfluss hat die Injektionstechnik auf den Adrenalinzusatz?

Kämmerer: Einen sehr großen. Bei der Infiltrationsanästhesie sollte immer ein geringer Adrenalinzusatz genutzt werden, während ich bei den anderen Techniken auch darauf verzichten kann. Dabei sollten sich Anwender bewusst machen, dass die Technik die Wirkdauer zusätzlich verlängern kann: Bei einer Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior mit Adrenalin kann das Taubheitsgefühl bis zu 4,5 Stunden andauern! Wann ist das schon notwendig? Es behindert die Patienten im Alltag und kann z. B. bei Kindern auch zu akzidentellen Bissverletzungen führen. Das bedeutet, Zahnärzte sollten immer individuell entscheiden – mit 1:200.000 als Standardanästhetikum macht man aber in der Regel wenig verkehrt.

Hinweis
Dieses Interview wurde mit freundlicher Unterstützung von Sanofi angefertigt. Bei ähnlich gelagerten Fällen ist die individuelle Therapieentscheidung durch die behandelnde Ärztin/den behandelnden Arzt maßgeblich. Die aktuellen Fachinformationen und Leitlinien sind zu beachten.


Der Experte

Unterkiefer-Augmentation

Foto: Uni Mainz

Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, M.A., FEBOMFS
Leitender Oberarzt/Stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de