Dysbiose und Probiotika

Feuer und Wasser der Parodontologie

Eine korrekt ausgeführte häusliche Zahnpflege spielt eine wichtige Rolle, um lebenslang im Mund gesund zu bleiben – sie ist aber kein Allheilmittel. Nicht die Menge an Biofilm, sondern dessen Zusammensetzung ist entscheidend, ob es am Ende zu Gingivitis und Parodontitis kommt. Im Gespräch erläutert Prof. Dr. Ulrich Schlagenhauf, ehemaliger Leiter der Abteilung für Parodontologie in der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Würzburg, wie es gelingt, einer Dysbiose präventiv entgegenzuwirken.



 

Als eine Erklärung für die Entstehung von Gingivitis und Parodontitis wird immer öfter das Dysbiose-Modell genannt. Was besagt es?
Fortschritte in der mikrobiologischen Analyse bestätigen, dass nicht die Menge an belassenen Zahnbelägen, sondern deren Zusammensetzung den Unterschied zwischen gesund und krank ausmacht. Nur eine kleine Gruppe sogenannter parodontitisassoziierter Bakterien wie Porphyromonas gingivalis, Tannerella forsythia oder Treponema denticola ist in der Lage, Entzündungen am Zahnhalteapparat auszulösen, die zu Gingivitis und Parodontitis führen. Neuere Untersuchungen belegen zweifelsfrei, dass alle parodontitisassoziierten Bakterien als sogenannten Pathobionten einen natürlichen Bestandteil der oralen Mikrobiota bilden. Nur das Auftreten ungünstiger Umstände führt zu ihrem krankheitsauslösenden, relativen Überwachsen innerhalb der bakteriellen Zahnbeläge, welches als „bakterielle Dysbiose“ bezeichnet wird. Zu den typischen Triggerfaktoren, die ein solch substratgesteuertes Überwachsen der
Pathobionten auslösen können, zählen Erkrankungen und Konditionen, die mit einer chronisch erhöhten Entzündungslast einhergehen, wie beispielsweise Adipositas, metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus, rheumatoide Arthritis, Tabakkonsum, chronischer psycho-sozialer Stress oder aber auch eine normale Schwangerschaft.
Was versteht man unter Probiotika, und wie können sie die Entstehung bakterieller Dysbiosen hemmen?
Aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht wäre es sicherlich am sinnvollsten, das Auftreten bakterieller Dysbiosen im Mund durch einen gesundheitskompatiblen Ernährungs- und Lebensstil zu verhindern. Dies ist jedoch im Einzelfall aufgrund der speziellen Lebenssituation und des sozialen Umfelds eines Patienten nur selten vollständig umsetzbar. Daher kann es sehr sinnvoll sein, gesundheitsfördernde Bakterien, die unter einer gesundheitskompatiblen Ernährung von selbst im Körper wachsen würden, von extern über die Ernährung zuzuführen. Derartige Mikroorganismen, die die Passage durch den sehr sauren Magen lebend überstehen, werden auch als Probiotika bezeichnet. Zu ihnen zählen probiotische Stämme diverser Laktobazillen- und Streptokokkenarten, Bifidobakterien sowie die Bierhefe Saccharomyces cervisiae var. boulardii. Prinzipiell geht die gesundheitsfördernde Wirkung probiotisch wirksamer Bakterien von zwei unterschiedlichen Mechanismen aus. Zum einen können Probiotika das Wachstum konkurrierender Bakterienspezies durch die gezielte Synthese und Freisetzung spezifischer antibakterieller Substanzen wie dem Bacteriocinen Wasserstoffperoxid oder organischen Säuren hemmen. Eine weitere Wirkung ist die systemische Modulation chronischer Entzündungen durch eine Beeinflussung des Aktivierungsstatus und der Funktion immunkompetenter Zellen des mukosalen Immunsystems. Bei vielen chronischen Entzündungen entsteht die Erkrankung erst durch ein gestörtes Gleichgewicht zwischen proinflammatorischen und entzündungshemmenden Elementen. Und dieses Gleichgewicht kann man zum Beispiel über die probiotikavermittelte Stimulation entzündungsdämpfend wirkender Zellen des Immunsystems in Richtung Entzündungshemmung verschieben.
Ist die adjuvante Anwendung von Probiotika in der Therapie der Gingivitis und Parodontitis schon ein praxisreifes Vorgehen?
Aktuell sind Probiotikapräparate erhältlich, die verschiedene probiotisch wirksame Bakterienstämme enthalten. Da sie per Definition keine Arzneimittel, sondern Nahrungsergänzungsmittel darstellen, unterliegt ihre Zulassung dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft und nicht dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Dies bedeutet, dass behördlicherseits nur die Ungefährlichkeit ihres Konsums als Nahrungsmittel überprüft wurde, nicht jedoch die erwartete gesundheitsfördernde Wirkung. Zur klinischen Wirksamkeit der meisten kommerziell erhältlichen Probiotika existieren nur sehr eingeschränkte Daten aus klinisch kontrollierten Studien. Eine Ausnahme hiervon bilden zwei probiotisch wirksame Lactobacillus reuteri Stämme (L. reuteri DSM 17938; L. reuteri ATCC PTA5289), zu denen positive Daten aus einer ganzen Reihe kontrollierter klinischer Studien vorliegen und deren entzündungshemmende Wirksamkeit auch von meiner eigenen Arbeitsgruppe in einer ganzen Reihe klinischer Studien überprüft wurde. Ihre adjuvante Anwendung in Form von L. reuteri-haltigen Lutschtabletten (Perio-Balance) zeigte in diversen Untersuchungen eine signifikante Verstärkung der Wundheilung und der Reduktion der Sondierungstiefen nach Scaling und Root Planing. In unseren eigenen Untersuchungen war zudem besonders auffällig, dass der Konsum der L. reuteri-haltigen Lutschtabletten auch bei Patienten mit sehr schlechter bis fehlender häuslicher Zahnpflege, bei starken Rauchern und in Fällen starker periimplantärer Mukositis eine ausgeprägte Reduktion der gingivalen Entzündungsstärke bewirkte und so ihre Anwendung
insbesondere bei Patienten, die einer Optimierung der mechanischen Plaquekontrolle nicht zugänglich sind, besonders vorteilhaft erscheint. Da weder in Studien noch in der täglichen Anwendung schwerwiegendere Nebenwirkungen beobachtet wurden, ist auch ein dauerhafter Konsum der L.reuteri-Keime möglich und dabei mit weniger unerwünschten Nebenwirkungen behaftet als etwa die weit verbreitete dauerhafte Anwendung antiseptisch wirkender Mundspüllösungen. Die Grenzen der Anwendung der Probiotika beschränken sich auf akut stark immunsupprimierten Patienten.
Was sind Ihrer Meinung nach die Kernaussagen aus den genannten Studien?
1. Das Ernährungsverhalten hat einen zentralen Einfluss auf das Risiko der Entstehung bakterieller Dysbiose.
2. Eine gezielte Ernährungslenkung ist eine wirksame Ergänzung herkömmlicher, auf Plaquekontrolle-basierender parodontaler Therapie- und Präventionskonzepte.
3. Probiotika stellen eine wirksame Alternative/ Ergänzung zur Ernährungs-lenkung und der Anwendung antiseptisch wirkender Mundspüllösungen dar.
4. Der Konsum probiotischer Bakterien wirkt entzündungsauflösend und zeigt keine Abhängigkeit von der Qualität der häuslichen Zahnpflege. So profitieren Menschen, die nicht dauerhaft zu einer guten häuslichen Zahnpflege angeleitet werden können, wie auch Raucher als Beispiel für eine Parodontitis-Risikogruppe in besonderem Maße vom adjuvanten Konsum klinisch getesteter Probiotika.
Welchem Patienten sollte man Probiotika empfehlen?
Jeder Patient sollte anhand seines Risikoprofils therapiert werden. Im Allgemeinen gelten folgende klinische Empfehlungen: Probiotika sollten generell nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der mechanischen Plaquekontrolle eingesetzt werden. Insbesondere Patienten mit nicht korrigierbaren Mundhygienedefiziten oder mit einer hohen und nicht korrigierbaren inflammatorischen Last profitieren von Probiotika. Probiotika sind auch dann sinnvoll, wenn temporär ein korrektes Zähne – putzen nicht möglich ist. Mit der optimalen Wirkung von probiotischen Lutschtabletten ist nach etwa 14 Tagen zu rechnen. Wird der Patient nach zwei bis drei Wochen reevaluiert, erhält man eine gute Einschätzung, was das Probiotikum bei diesem Patienten zu leisten vermag.