Implantologie

„Implantation in die Zukunft“

Mit der modifizierten Buser-Regel 3 lässt sich vorab das Problem „Infraposition“ vermeiden. Im Gespräch mit dem DENTAL MAGAZIN erklärt Dr. Jan Tetsch das Prozedere.



Das Gesichts- und Knochenwachstum dauert bis zum 30., oft sogar bis zum 35. Lebensjahr an. Bei Frauen ist das noch extremer als bei Männern. Gibt es ein Mindestalter für Implantate? Sollte man bei jüngeren Patienten sicherstellen, dass das Wachstum abgeschlossen ist?
Tetsch: 20–30 Prozent der 7- bis 14-Jährigen sind von einem Frontzahntrauma in vielen Abstufungen der WHO-Klassifikation betroffen. Die Trendsportarten bei den Kindern und Jugendlichen sind die Hauptverursacher für primäre oder sekundäre Zahnverluste. Nach Möglichkeit sollten die Zähne so lange wie möglich erhalten werden, kommt es dennoch im Wachstum zu einem Verlust, dann sind die Folgen für ein Kind in vielerlei Hinsicht problematisch:
Problematisch ist neben dem Verlust des Hartgewebes in vielen Fällen auch der Verlust des Attachments an den benachbarten Zähnen mit entsprechenden Taschenbildungen und Knochenabbaureaktionen. Dies ist ein irreversibler, nicht reparabler Prozess.
Die Gesamtentwicklung der Kinder ist für mich ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Therapieplanung. Die psychische Belastung für Kinder ist bei Fehlen eines Frontzahns im sichtbaren Bereich ein echtes Problem, das nicht selten zu Depressionen in jeglicher Form führen kann.

Prof. Dr. Wael Att, Oberarzt an der Klinik für Zahnärztliche Prothetik des Universitätsklinikums Freiburg und Leiter des Postgraduiertenprogramms, empfiehlt, zwei Aufnahmen durchzuführen im Abstand von sechs Monaten, sogenannte Fernröntgen-Seitenaufnahmen (FRS), und plädiert für Implantate bei Männern erst ab 23 Jahren, bei Frauen ab 26 Jahren. In diesem Alter reduziere sich das Wachstum auf ein Minimum. Was halten Sie davon?
Tetsch: Wenn ein Frontzahnverlust im Kindesalter auftritt und die Implantat-prothetische Versorgung im Alter von 27 Jahren erfolgen soll, dann erfolgt in diesem „Therapie-Vakuum“ mit Sicherheit eine komplette Atrophie des vorhandenen Restknochens. Umfangreiche und unbefriedigende Augmentationen von Hart- und Weichgewebe sind die Folge mit häufig ernüchterndem Ergebnis. Ehrlich gesagt, verändert sich der Mensch in seinem Phänotyp bis ins Greisenalter – sollte man das dann eventuell auch abwarten und in die langfristigen Planungen einbeziehen? Für mich ist die Gesamtentwicklung des Kindes wichtig – und die Zeit zwischen dem 12. und 30. Lebensjahr hat für die individuelle Gesamtentwicklung eine sehr prägende Bedeutung.
Hier sollte ein unbeschwertes Auftreten möglich sein und ein fehlender Zahn keine Belastung darstellen.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kieferorthopäden

Gefordert wird auch, dass der Implantologe dabei mit dem Kieferorthopäden analysieren soll, ob sich in diesem Zeitfenster Veränderungen der Knochenstrukturen zeigen. Gibt es Veränderungen, geht das Wachstum weiter und von einer Implantation sollte abgesehen werden. Was vertreten Sie? Und was ist die Alternative, eine Marylandbrücke zum Beispiel?
Tetsch: Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist unbedingt erforderlich. Die Kieferorthopädie ist ein wichtiger Bestandteil bei der Entwicklung der Gesamtplanung. Wachstumsbeurteilungen und Harmonisierung der Lücke und des Zahnbogens sind Grundvoraussetzungen für einen Behandlungserfolg. Eine Marylandbrücke ist nur bedingt eine Alternative: Wird die Marylandbrücke zweiflügelig gestaltet, hemmt sie das Wachstum, wird sie einflügelig gestaltet, können Kippmomente entstehen.

Was sind die Folgen?
Tetsch: Der Zahn kann in die Lücke „kippen“ mit den entsprechenden negativen parodontalen Folgen. Liegt eine lückige Front vor (Abb. 5, 6, 7), ist eine Marylandbrücke absolut kontraindiziert. Dazu kommt: Das Problem der Inaktivitätsatrophie und der funktionellen Nichtbelastung ist durch eine Marylandbrücke ebenso wenig gelöst wie die Entwicklung des Alveolarfortsatzes unterhalb des Brückenglieds. Hier fehlt die funktionelle Belastung des Alveolarfortsatzes, entsprechend kommt es zu Atrophieprozessen in transversaler und vertikaler Dimension. Die Folgen erschweren eine spätere Implantation.

Implantation nach den Buser-Regeln

Welche weiteren Komplikationen können auftreten? Studien belegen zum Beispiel, dass sich vor allem bei Frauen, die in jungen Jahren Implantate erhielten, die Implantatposition nach sechs bis sieben Jahren verändert [Daftary et al.]. Die Implantate stehen dann im Vergleich zu der Nachbarbezahnung deutlich höher, vor allem im Frontzahnbereich. Dann erscheint natürlich die Krone zu kurz.
Tetsch: Das ist in der Tat das Hauptproblem: Der Alveolarfortsatz wird ausgebildet vom Wachstum der vitalen bleibenden Zähne. Devitale Zähne bzw. Implantate, die in der Wachstumsphase gesetzt werden, wachsen nicht mit. Infolgedessen entsprechen die Länge der Schneidekante und das Emergenzprofil im marginalen Bereich nach Abschluss des Wachstums nicht mehr denen des kontralateralen Zahns (siehe Abb. 9). Korrekturen der Prothetik sind mit einfachen Mitteln möglich. Korrekturen des Durchtrittsprofils und die Veränderung der Lage des Implantats jedoch nicht.

Wie gehen Sie in Ihrer Praxis vor?
Tetsch: Wir haben genau für diese Problematik die 5D-Implantation entwickelt und implantieren nach den Buser-Regeln 1, 2 und modifiziert 3, bei der die Vertikalposition je nach Implantat-Typ nicht 3–5 mm unterhalb der Schmelz-Zement-Grenze des kontralateralen Zahns inseriert wird, sondern teilweise parallel oder oberhalb der Schmelz-Zement-Grenze. Hier wird das Implantat in Raum und Zeit in die Zukunft inseriert. Das zukünftige Emergenzprofil entspricht dann dem Emergenzprofil des kontralateralen Zahns nach Abschluss des Wachstums. Zu Behandlungsbeginn ist die Krone im marginalen Durchtritt immer zu kurz gestaltet. Die Prothetik wird veränderbar konstruiert, so dass die Inzisalkante durch Verlängerung korrigiert werden kann, ggf. auch durch Neuanfertigung der Krone (Abb. 10 bis 17).

Das Thema wird zurzeit kontrovers diskutiert. Speziell bei den Altersbegrenzungen gehen die Meinungen auseinander. In der Vergangenheit hielt man Implantieren ab 18 Jahren für indiziert, in der Annahme, das Wachstum sei dann abgeschlossen. Wird das in der Praxis noch so gehandhabt? Gibt es einen Trend?
Tetsch: Ich erhalte Zähne, so lange es geht, ohne chirurgische Intervention und warte nach Möglichkeit den vollständigen Durchtritt der Eckzähne ab. Dies ist ein sehr wichtiger Hinweis für die frontale Entwicklung des Alveolarfortsatzes. Unter Berücksichtigung des Wachstumstyps (vertikales, horizontales oder sagittales Wachstumsmuster) ist eine frühzeitige Implantation der Schlüssel zum langfristigen Behandlungserfolg ohne chirurgische Korrekturmaßnahmen.

Inaktivitätsatrophie versus Wachstum?

Die Kontroverse lautet demnach: Inaktivitätsatrophie versus Wachstum?
Tetsch: Richtig, da gibt es unterschiedliche Ansichten. Fakt ist: Jeder Patient wird individuell behandelt. Die wichtigste Grundregel ist, dass der Nutzen für den Patienten größer sein muss als ein zu erwartender späterer Schaden. Dazu zählen nicht nur die implantologischen Problematiken, sondern besonders auch die psychische Gesamtentwicklung der Adoleszenten.

Ist eine Leitlinie zu diesem Thema geplant?
Tetsch: Eine Leitlinie zu diesem Thema ist extrem schwierig, aber ich wünsche mir, dass jeder Patient individuell begutachtet und behandelt werden darf unter einer entsprechenden Risikoeinschätzung. Die Gesamtentwicklung des Kindes steht absolut im Vordergrund. Unbeschwerte Kindheit und Jugend, ohne permanent gestresst sein zu müssen von einem Provisorium, das mehr oder weniger fest sitzt und gerade in entscheidenden Situationen herausfällt und den Adoleszenten in peinliche und unangenehme Situationen bringt. Im September 2015 wurde im Rahmen der DGI-Konsensuskonferenz unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden über die Problematiken der syndromalen Nichtanlagen mit den verschiedenen Fachrichtungen und Gesellschaften debattiert. In Anlehnung an diese Leitlinienentwicklung wird in meinen Augen zu einem frühen Zeitpunkt in individuellen Einzelfällen die Implantatversorgung möglich sein. Grundsätzlich gehört diese von mir angesprochene Therapie zur Vermeidung von Misserfolgen allerdings in sehr erfahrene Hände. Eventuelle Misserfolge und anschließende Korrekturmaßnahmen sollten immer auch besprochen und beherrscht werden.

Dr. Jan Tetsch
Fachzahnarzt für Oralchirurgie, niedergelassen in eigener Praxis in Münster, hat sich unter anderem auf die Implantation bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert, implantierte auch seinen Sohn im Alter von 15 Jahren.
praxis@tetsch-muenster.de