Unrichtige Diagnose: Welche rechtlichen Konsequenzen drohen?
Unterliegt der Arzt einem vertretbaren Diagnoseirrtum und klärt er den Patienten deshalb unzureichend über mögliche Behandlungsoptionen auf, kommt eine Haftung wegen eines Aufklärungsmangels nicht in Betracht. Zu dieser Feststellung kommt das Oberlandesgericht Dresden.
Eine objektiv unrichtige Diagnose an sich stellt noch keinen Behandlungsfehler dar. Beruht die unrichtige Diagnose allerdings auf einer vorwerfbaren Fehlinterpretation erhobener Befunde oder einer Unterlassung der für die Diagnosestellung oder ihre Überprüfung notwendiger Befunderhebungen, kann das Gericht dies durchaus als Behandlungsfehler werten. Die spätere Überprüfung und Bewertung setzt dabei zwingend die ex-ante Sicht voraus. Das Oberlandesgericht Dresden hatte unlängst einen solchen Fall zu beurteilen. In seinen Entscheidungsgründen zu seinem Beschluss vom 09.12.2020 (Az. 4 U 1777/20) führte das Gericht sachverständig beraten unter anderem aus:
„Dem Beklagten kann nicht vorgeworfen werden, dass er am 01.09.2009 die bei der Klägerin vorhandene apikale Parodontitis an den Zähnen 46 und 47 nicht erkannt hat. Der Beklagte hat aus der OPG-Aufnahme vom 31.08.2009 am Zahn 47 Karies diagnostiziert und eine Überkronung der beiden Zähne empfohlen. Es liegt eine objektive Fehldiagnose vor.
Unrichtige Diagnose ist kein Behandlungsfehler
Die Auffassung der Klägerin, es liege keine unrichtige Diagnose, sondern eine unterlassene Diagnosefeststellung vor, führt in der Sache zu keinem anderen Ergebnis. Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass dies keinen Behandlungsfehler darstellt. Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu werten […]. Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes.
Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf verschiedene Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden […].
Die Wertung einer objektiv unrichtigen Diagnose als Behandlungsfehler setzt die vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde oder die Unterlassung für die Diagnosestellung oder ihre Überprüfung notwendiger Befunderhebungen voraus […]. Im vorliegenden Fall hat der Sachverständige eine vorwerfbare Fehlinterpretation verneint. Maßgeblich ist hierbei die Sicht ex-ante. Der Sachverständige erklärte, dass erst auf dem Zahnfilm der Praxis H… vom 02.07.2010 die periapikale Aufhellung im gesamten Bereich des Zahnes 47 deutlich zu erkennen und damit die Rückinterpretation der periapikalen Befunde auf den Röntgenbildern vom 31.08.2009 und 06.04.2010 leichter gewesen sei.
Die Qualität der Röntgenaufnahmen vom 31.08.2009 und 06.04.2010 lasse demgegenüber für sich genommen eine genaue Interpretation nicht zu. Ihm sei der Befund zwar bei der ersten Durchsicht aufgefallen. Er habe jedoch vier Kollegen die OPG-Aufnahmen vorgelegt und drei von vieren hätten den entsprechenden Befund erkannt, einer hingegen nicht. Darüber hinaus habe auch der MDK-Gutachter diese Vorerkrankung nicht entdeckt.
Vertretbarer Diagnoseirrtum führt nicht zu einer Haftung
Auch die Nachbehandlerin H… hätte die Erkrankung nicht festgestellt, denn sie habe noch in dem Bereich 45, 47 eine Brücke geplant. Darüber sei der Zahn 47 bei den Vitalitätsproben positiv gewesen sei. Werde ein Zahn als vital eingeschätzt, so rechne man nicht mit einer apikalen Parodontitis. Denn dann wäre eher zu erwarten gewesen, dass die Vitalitätsprobe negativ verlaufe. Daher kam der Sachverständige zu dem überzeugenden Schluss, dass für ihn die Grenze zu einem vorwerfbaren Diagnosefehler bei der Auswertung des OPG vom 31.08.2009 i.S. einer unvertretbaren Fehlleistung unter Berücksichtigung des damaligen Erkenntnisstandes nicht überschritten sei.
Ohne Erfolg beanstandet die Klägerin in der Berufung, dass das Landgericht den Ausführungen des Sachverständigen gefolgt sei. Die Ausführungen des Sachverständigen sind gut begründet und plausibel nachvollziehbar. Die Klägerin zeigt weder Widersprüchlichkeiten in den Ausführungen des Sachverständigen auf noch werden substantiiert Fehler gerügt.“
Anschließend machte das Oberlandesgericht Dresden in seinem Beschluss eine weitere wichtige Feststellung: Unterliegt der Arzt einem vertretbaren Diagnoseirrtum und klärt er den Patienten deshalb unzureichend über mögliche Behandlungsoptionen auf, kommt eine Haftung wegen eines Aufklärungsmangels nicht in Betracht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein vertretbarer Diagnoseirrtum weder zu einer Haftung wegen eines Behandlungsfehlers führt, noch zu einer Haftung wegen eines auf dem vertretbaren Diagnoseirrtum beruhenden Aufklärungsmangels.
Die Expertin
Dr. Susanna Zentai
ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Dr. Zentai – Heckenbücker in Köln und als Beraterin sowie rechtliche Interessenvertreterin (Zahn-)Ärztlicher Berufsvereinigungen tätig.
kanzlei@d-u-mr.de