Einfach Endo
Ein-Feilen-Systeme oder reduzierte Varianten drängen auf den Markt. Damit soll die Endodontlogie auch für Allgemeinzahnärzte einfacher zu handeln sein. Nach welchen Kriterien der Praktiker zwischen den unterschiedlichen Systemen auswählen sollte, erläutert Dr. Thomas Schwarze im Interview.
Herr Dr. Schwarze, welches System eignet sich für wen?
NiTi-Systeme wie Reciproc, WaveOne, One shape oder Komet 360° sind als vollwertige Aufbereitungsinstrumente entwickelt worden und eignen sich zur Präparation von Wurzelkanälen. Allerdings liegen den Instrumenten zwei völlig unterschiedliche Bewegungsabläufe zugrunde. Während One Shape und Komet 360° wie gewohnt rotierend arbeiten, führen Reciproc und WaveOne reziproke Bewegungen durch. Reziprok bedeutet, dass eine Umdrehung des Instruments in drei kleinen Vor- und Zurückbewegungen abläuft. Durch diese reziproke Arbeitsweise wird das Risiko für einen Torsionsbruch effektiv reduziert, weil ein Überschreiten des maximalen Verdrehwinkels während der Aufbereitung sicher vermieden wird. Weil man grundsätzlich mit allen vier Systemen Wurzelkanäle aufbereiten kann, ist es kaum möglich, einen Leitfaden im Sinne von „bei diesem Fall nehme man das eine System und bei jenem das andere“ zu nennen. Wer bereit ist, sich mit der neuen reziproken Aufbereitungsweise auseinanderzusetzen, wird die Vorzüge schätzen lernen.
Ist mit dieser Technik das Optimum erreicht, oder gibt es weitere Verbesserungsmöglichkeiten?
Solange wir es mit Bakterien in einem komplexen Kanalsystem zu tun haben, wäre ich mit der Bezeichnung „Optimum“ etwas vorsichtig. Die mechanische Kanalpräparation dient meiner Ansicht nach hauptsächlich als Wegbereiter für die chemische Aufbereitung. Das Aufbereitungsinstrument soll den Kanal gleichmäßig konisch erweitern unter Beachtung der anatomisch vorgegebenen Kanalkrümmung. Nur dann ist eine effiziente Spülung und anschließende dichte Füllung des Kanals möglich. Wenn es heute möglich ist, mit nur einem einzigen Instrument ein gleich gutes Aufbereitungsergebnis zu erzielen wie bislang mit einer längeren Sequenz von fünf bis zehn Instrumenten, dann ist das schon beachtlich und bedeutet in vielen Fällen eine enorme Vereinfachung. Erste Studienergebnisse deuten darauf hin, dass mit reziproken Instrumenten eine sehr effiziente und sichere Kanalpräparation möglich ist.
Allerdings bleibt die Wurzelkanalbehandlung in ihrer Gesamtheit immer noch eine anspruchsvolle Therapie, die auch zukünftig noch Potenzial für Weiterentwicklungen bietet – wahrscheinlich mehr noch auf dem Gebiet der chemischen Kanalaufbereitung.
Plädieren Sie für Einweginstrumente?
Auf jeden Fall. Wie wir heute wissen, sind benutzte Wurzelkanalinstrumente ein überaus kritisches Sterilgut, weil sie sich mit den üblichen Verfahren nur unzureichend aufbereiten und sterilisieren lassen. Hier ist es konsequent, die Feilen als Einweginstrumente zu deklarieren und sie nach dem Gebrauch zu verwerfen. Man spart sich das aufwändige Aufbereitungsverfahren und arbeitet dabei trotzdem wirtschaftlich, weil im Vergleich zu traditionellen Aufbereitungssystemen viel weniger Instrumente verwendet werden, die – zumindest im GOZ-Bereich – auch noch voll berechnungsfähig sind. Zumindest unter dem Aspekt der Hygiene finde ich die Ein-Feilen-Einweginstrumente schon optimal.
In welchen Fällen würden Sie auch Revisionen mit nur einer Feile durchführen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Guttapercha sehr gut mit reziproken Instrumenten aus dem Kanal entfernen lässt.
Allerdings würde ich Revisionen eigentlich nie mit nur einer Feile durchführen. Die Schwierigkeit bei Revisionsbehandlungen besteht darin, zunächst einmal die Probleme aus der Erstbehandlung zu beseitigen, bevor der Kanal dann danach suffizient weiter präpariert werden kann.
Neben der vollständigen Entfernung des alten Wurzelfüllmaterials müssen oft Stufen geglättet und Verblockungen überwunden werden, die im Laufe der Erstbehandlung verursacht wurden. Während sich Guttapercha mit Reciproc-Instrumenten gut aus dem Kanal entfernen lässt, wird es schwieriger, wenn Ausbuchtungen in der Kanalwand von Sealerresten möglichst vollständig gereinigt werden sollen. Auch wenn es darum geht, eine Stufe zu glätten, auf der das NiTi-Instrument immer wieder aufsetzt, wird man kaum um die zusätzliche Verwendung von Ultraschall- oder vorgebogenen Stahlinstrumenten herumkommen.
Wie gut ist eigentlich einfach? Viele Experten, auch Sie, waren anfangs äußerst skeptisch.
Hier sollte man etwas differenzieren. Für den endodontisch eher weniger geübten Behandler, der die Wurzelkanalbehandlung bislang nicht als seinen Schwerpunkt angesehen hat, werden Ein-Feilen-Systeme meist eine deutliche Vereinfachung des Arbeitsablaufs und auch eine Verbesserung der Behandlungsqualität bedeuten. In den vielen Hands-on-Kursen, die seit Einführung reziproker Systeme gelaufen sind, konnte man regelmäßig beobachten, wie Kursteilnehmer, die bislang oft noch mit Handinstrumenten gearbeitet hatten, schon nach kurzer Zeit in der Lage waren, an extrahierten Zähnen auch gekrümmte Kanäle sicher aufzubereiten. Vermutlich wird diese Gruppe der Zahnärzte schnell von den aktuellen Entwicklungen profitieren.
Dennoch haben Sie gezögert.
Inwieweit Ein-Feilen-Systeme wie Reciproc auch für Spezialisten ein geeignetes System darstellen können, war mir zunächst nicht klar. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, schwierige Fälle ohne ein vielfältiges Instrumentarium mit vielen unterschiedlichen Feilen zu behandeln. Nach zwei Jahren zunehmender klinischer Reciproc-Verwendung sehe ich das heute differenzierter und betrachte Reciproc als eine wertvolle Ergänzung meiner Möglichkeiten.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Während es mir früher oft etwas schwerfiel, klinisch obliterierte Kanäle mit zunächst sehr feinen Feilen und viel EDTA-Spülungen zu sondieren und zu präparieren, lassen sich heute solche Fälle mit der reziproken Aufbereitung oft überraschend schnell aufbereiten. Durch das stark reduzierte Risiko eines Torsionsbruchs können mit etwas Übung Reciproc-Instrumente forcierter eingesetzt und Obliterationen mit dosiertem Druck überwunden werden.
Klinisch erscheint mir die Behandlungsqualität von Reciproc-Instrumenten im Vergleich zu rotierenden NiTi-Systemen zumindest als gleichwertig. Wie sich die Reinigungseffizienz, die Formgebung und Arbeitssicherheit der noch sehr neuen Ein-Feilen-Systeme wissenschaftlich bewerten lässt, werden zukünftige Studien zeigen.
Wie viel Zeit spart man mit einfachen Systemen?
Der Aspekt der Zeitersparnis sollte bei Ein-Feilen-Systemen nicht in den Vordergrund rücken. Die mechanische Kanalaufbereitung ist nur ein Teilschritt der komplexen Wurzelkanalbehandlung und es besteht sogar die Gefahr, dass die sehr wichtige Spülung zu kurz kommt, wenn die Präparation eines Kanals zu schnell geht. Wie wir wissen, ist es für den Erfolg einer Wurzelkanalbehandlung von entscheidender Bedeutung, die Bakterien aus dem Kanalsystem zu entfernen. Im Falle eines infizierten Wurzelkanals mit Biofilmen auf der Kanalwand und in den Ramifikationen ist es eine Illusion zu glauben, der Kanal sei in fünf Minuten fertig aufbereitet, auch wenn sich die mechanische Präparation mit Reciproc durchaus so schnell schaffen lässt. Im Sinne des angestrebten Behandlungserfolgs wäre es, die bei der Präparation eingesparte Zeit in eine intensivere Kanalspülung zu investieren, nach Möglichkeit mit der Unterstützung durch Ultraschallsysteme.
Wird mit den Ein-Feilen-Systemen die Endodontie endgültig zum „Brot-und-Butter-Geschäft“ des Zahnarztes?
Wurzelkanalbehandlungen gehören schon lange zum täglichen Brot des Zahnarztes. Der weitaus größere Teil aller Wurzelkanalbehandlungen wird von den vielen Allgemeinzahnärzten und nicht von den relativ wenigen Endo-Spezialisten durchgeführt. Jeder endodontisch tätige Zahnarzt wird für sich eine Grenze definiert haben, bis zu der er Wurzelkanalbehandlungen durchführen kann. Zähne, die jenseits dieser Grenze liegen, werden leider noch oft extrahiert. Hier kann ich mir vorstellen, dass Ein-Feilen Systeme diese Grenze weiter verschieben, weil durch sie die Aufbereitung im Vergleich zur Handpräparation, aber auch zu maschinellen Mehr-Feilen-Systemen deutlich vereinfacht wird. Im Bereich der Primärbehandlung – und der größte Teil der vom Allgemeinzahnarzt durchgeführten Wurzelkanalbehandlungen sind Primärbehandlungen – ist es nach kurzer Einarbeitungszeit gut möglich, auch gekrümmte und teilweise kalzifizierte Kanäle suffizient aufzubereiten. Durch die verbesserte Präparation wird eine intensivere Desinfektion und abschließend eine dichtere Füllung möglich.
Ein kurzer Ausblick: Wann stoßen einfache Systeme an ihre Grenzen? In welchen Fällen reicht die eine Feile definitiv nicht?
Die Einschränkung zur Verwendung von Ein-Feilen-Systemen bei der Revisionsbehandlung habe ich schon genannt. Bei Primärbehandlungen gibt es meiner Einschätzung nach kaum Kontraindikationen. Limitierend kann hier die Größe der Instrumente sein. Extrem weite Kanäle können möglicherweise nicht vollständig aufbereitet werden, weil beispielsweise das größte Reciproc-Instrument an seiner Spitze nur einem ISO 50-Instrument entspricht, auch wenn es eine wesentlich stärkere Konizität besitzt. Allerdings ist es in diesen Fällen recht einfach, zusätzlich stärkere Hand- oder Ultraschallinstrumente zur weiteren Kanalaufbereitung zu verwenden. Manchmal kann es auch notwendig werden, bei mehrwurzligen Zähnen zusätzliche Instrumente zu verwenden. Zum Beispiel kann ein Oberkiefermolar neben schmalen Kanälen in der mesialen und distalen Wurzel einen weiten palatinalen Kanal besitzen, für den eine R25-Feile nicht ausreicht. In diesen Fällen brauchen wir dann für die Aufbereitung des weiten Kanals ein größeres Instrument, vielleicht eine R40-Feile. Und dann haben wir streng genommen kein Ein-Feilen-System mehr, was ich persönlich aber nicht schlimm finde. Ein-Feilen-Systeme sind kein Dogma. Man darf sie natürlich bei Bedarf mit weiteren Instrumenten ergänzen. ab
PD Dr. Thomas Schwarze studierte Zahnmedizin in Hannover und ist seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis in Hannover. Von 1994 bis 2002 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Zahnerhaltung und Parodontologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, von 2002 bis 2004 Leitender Oberarzt.