Schmerzfrei durch ganzheitliche Therapie
Seit 1970 wurden alle Patienten des Autors Dr. Dapprich, die keine optimale Okklusion hatten, das waren etwa 95 %, mit einer Schiene vorbehandelt und in der zentrischen Kondylenposition eingeschliffen. Erst danach erfolgten, falls erforderlich, prothetische Versorgungen. Bei 40 % der Patienten änderte sich die Okklusion nicht mehr, bei 60 % dagegen änderte sich ständig die Kondylenposition und damit die Okklusion.
Ein Beispiel ist eine Patientin von 1974 (Abb. 1), bei der sich die Okklusion nach der Behandlung nicht mehr änderte. Bei den anderen 60 % der Patienten änderte sich dagegen ständig die Okklusion, bei manchen im µm-, bei anderen im Millimeter-Bereich, wie ein anderer Patientenfall von 1974 zeigt (Abb. 2), sichtbar an den Einschleifspuren links unten im Bild. Durch das 1977 erschienene Buch „The Dental Physician“ des U.S. amerikanischen Zahnarztes A. Fonder [1] wurde Dr. Dapprich klar, warum das so ist. Der Autor zeigt, wie das Becken schief und die Wirbelsäule durch die Okklusion verkrümmt wird und die Okklusion sich deshalb ständig ändert. Als erster deutscher Zahnarzt hat W. Balters, Düsseldorf, 1964 auf diese Zusammenhänge hingewiesen [2]. Schmerzen können im ganzen Körper entstehen (Abb. 3).
Kasuistik
Zuerst untersuchte ein Orthopäde die Patientin, ob andere Probleme die Ursache ihrer Schmerzen sind, danach fertigte er eine 4D-Diers-Vermessung der Wirbelsäule an (Abb. 4). Er fand weder klinisch noch bei einer Röntgenaufnahme oder bei einem MRT andere Ursachen.
Anamnese
Die Patientin gab an, dass sie seit vielen Jahren Schmerzen in der rechten Kaumuskulatur sowie Kopf-, Nacken- und starke Rückenschmerzen hat, nie schmerzfrei sei und diese Schmerzen ihr ganzes Leben extrem beeinträchtigten. Ferner gab sie an, dass sie schon bei vielen Ärzten und auch Zahnärzten war und dass ihr bisher keiner helfen konnte. Da sie keine Ursache fanden, wurde ihr gesagt, sie hätte ein psychisches Problem.
Diagnose
Die gesamte Kaumuskulatur mit Nacken auf der rechten Seite war stark verspannt und Atlas/Axis waren nicht in der richtigen Position. Durch die Diers-4D-Vermessung der Wirbelsäule wurde deutlich, dass eine starke Skoliose der Wirbelsäule und ein Beckenschiefstand vorhanden war. Mit einer Beckenwaage (Abb. 5) wurde ihr Beckenstand gemessen. Dieser war rechts 10 mm tiefer, weshalb das rechte Bein funktionell 10 mm länger war (Abb. 6). Ursache war ein Vorkontakt auf der rechten Seite an 44 und 45.
Eine CMD kann mehrere Ursachen haben: Okklusion, Kiefergelenke, Psyche, Stress und Bruxismus. Dagegen war die Ursache der von einer CMD ausgelösten Rückenschmerzen bei dieser Patientin (wie bei allen anderen auch) eine Okklusionsstörung. Wenn der erste Vorkontakt auf der rechten Seite ist, steht das Becken auf der rechten Seite tiefer, immer dort, wo der erste Vorkontakt gerade ist. Patienten, deren Schmerzursache eine CMD ist, haben eine Beinlängendifferenz mit Skoliose der Wirbelsäule, dabei gibt es drei Möglichkeiten:
- ein Bein kann funktionell länger oder
- das andere funktionell kürzer sein oder
- es ist eine echte Beinlängendifferenz vorhanden, die aber selten ist.
Der wichtigste Test dazu ist das Vorlaufphänomen, dazu legen wir unsere Daumen auf die Spina iliaca posterior superior. Die Patientin bückt ihren Oberkörper erst im Stehen und dann im Sitzen nach vorne unten (Abb. 7). Wenn der Daumen auf einer Seite beim Bücken nach kranial wandert, ist das Bein auf der Seite funktionell kürzer, im Stehen liegt die Ursache im Ileum, im Sitzen im Sacrum. In diesem Fall ging der Daumen beide Male nicht höher und deshalb war das Vorlaufphänomen negativ, das bedeutet, dass links kein Beckenhochstand vorlag. Danach wurde mit dem „Spine-Test“ eine Blockade des rechten SIG-Gelenks festgestellt (Abb. 8). Für die Diagnose wird craniosacral mit der bei Osteopathen bekannten „Occiput-sacrum Schaukel“ oder dem Meerssemann-Test (Abb. 9) kurzfristig das Becken der Patientin gerade gestellt. Mit dem variablen Beinlängendifferenz-Test nach Derbolowsky sieht man dann sofort, wie die Okklusion die Beinlänge und die SIG-Gelenke beeinflusst (Abb. 10a und b) [4].
Bei geöffnetem Mund sind die Beine jetzt gleichlang und damit das Becken gerade (Abb. 11). Die Patientin beißt danach auf die Zähne und der Beinlängen-Test mit Zahnkontakt wird wiederholt. Sofort war das Becken wieder schief und deshalb das rechte Bein länger (Abb. 12). Doppeltes Memopapier (200 µm) wurde zwischen die andere Seite mit der Infraokklusion gelegt und damit die Okklusion ausgeglichen (Abb. 13). Die Patientin biss wieder zu und nach erneutem Beinlängendifferenz-Test wurde das Becken der Patientin gerade und dadurch die Beine wieder gleich lang [5]. Umgekehrt kann man die Okklusion überprüfen, ob ein Vorkontakt vorhanden ist; die Patientin beißt zu und wenn nach dem Test die Beine gleich lang sind, ist kein Vorkontakt vorhanden, dies ist bis auf 30 µm genau. Bei dieser Patientin blieb der erste Kontakt, wie bei 70 % aller meiner Patienten, mit der craniosacralen „Occiput-sacrum Schaukel“ auf derselben Seite, bei 30 % der Patienten ist er aber jetzt auf der anderen Seite [6], da die Okklusion sich geändert hat und der erste Kontakt jetzt auf der anderen Seite ist. Dadurch steht das Becken nach dem Beinlängendifferenz-Test auch auf der anderen Seite tiefer. Das erscheint kompliziert, ist es aber nicht, denn wir legen das Papier immer auf die andere Seite des jeweiligen ersten Vorkontaktes, das ist immer die andere Seite des aktuell längeren Beines.
Therapie
Die Patientin wurde direkt vor dem Einsetzen der Schiene von einem Osteopathen behandelt, anschließend noch mal 14 Tage später und die Schiene danach jeweils eingeschliffen (Abb. 15). Es folgten zwei Termine bei einem Atlastherapeuten. Die Patientin kam die ersten vier Monate jede Woche zum Einschleifen der Schiene. Zuerst wurde die Beinlänge der Patientin überprüft, denn die änderte sich anfangs immer, da sich durch die Entspannung der Muskulatur die Kondylenposition wieder änderte. Durch die „Occiput-sacrum Schaukel“ aus der Osteopathie wurde das Becken gerade und mit der ebenfalls osteopathischen „Finger in Ear“-Therapie die Kiefergelenke eingestellt und sofort danach die Schiene eingeschliffen. Ein CMD-Physiotherapeut behandelte die Patientin von Anfang an jede Woche für vier Monate und dann alle 2–3 Wochen bis sie beschwerdefrei war. Nach vier Monaten mit wöchentlichem Einschleifen der Schiene blieb das Becken gerade und die Rückenschmerzen im LWS–Bereich waren zuerst weg. Dann wurde die Schiene alle 2–3 Wochen eingeschliffen, bis die gesamte Muskulatur entspannt, die Wirbelsäule gerade und die Patientin schmerzfrei war. Im Anschluss wurde vom Orthopäden erneut eine 4D-Vermessung der Wirbelsäule durchgeführt, sowohl das Becken als auch die Wirbelsäule waren nun gerade. Die Abbildungen vor der Therapie (Abb. 14a) und nach der Therapie (Abb. 14b) sind bemerkenswert und zeigen eindeutig den Erfolg dieser Therapie. Diese dauerte 13 Monate, danach wurden die Zähne der Patientin selektiv in zentrischer Kondylenposition nach der Methode von Hyman Smukler (Boston/USA) eingeschliffen [7]. Seitdem war sie schmerzfrei, konnte besser schlafen [8] und bruxierte nicht mehr. Für mich war es außerdem sehr wichtig, dass sich die Okklusion nicht mehr geändert hat, wie bei allen anderen Patienten auch.
Diskussion
Bis heute wird diese interdisziplinäre Methode, d. h. der Einfluss der Okklusion auf den Bewegungsapparat, von den meisten Wissenschaftlern wegen fehlender Evidenz abgelehnt. Einige wenige Wissenschaftler sehen das ähnlich wie ich selbst. Dabei vergessen viele dieser Wissenschaftler häufig, dass es auch eine Interne Evidenz gibt, wie diese Methode, die auf dem Evidenz Level IV steht. Die Diers 4D-Vermessung der Wirbelsäule ist evidenzbasiert und die Aufnahmen vor und nach der Therapie sind deshalb auch ein Beweis für den Zusammenhang der Okklusion und dem Bewegungsapparat.
Dr. Jürgen Dapprich, seit 1973 in eigener Praxis in Düsseldorf, ist u. a. Mitglied der „Neuen Gruppe“ sowie Fellow des I.C.D. und der P. F. A. Spezialist und Ehrenmitglied der DGFDT. Autor von drei Fachbüchern, die letzten beiden über CMD, 3. Buch: „Interdisziplinäre Funktionstherapie, Kiefergelenk und Wirbelsäule“ Deutscher Ärzteverlag Köln – 2. überarbeitete Auflage 2018. 24 Veröffentlichungen und über 100 Kurse und Vorträge im In- und Ausland. Seit 2005 limitiert auf Funktionsdiagnostik und Therapie im CMD-Centrum-Düsseldorf.
CMD-Centrum-Düsseldorf
D-40212 Düsseldorf
info@cmd-centrum-duesseldorf.de
www.drdapprich.de
Literaturnachweise:
- Fonder A (1977/1985) The Dental Physician. 1st/2nd Medical Dental Arts, West 2nd Street, Rock Falls, Il, USA
- Balters W, Die Wirbelsäule aus Sicht des Zahnarztes. Zahnärztl Mitt (1964), 9, 408–412
- Dapprich J (2018) Interdisziplinäre Funktionstherapie, Kiefergelenk und Wirbelsäule 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag Köln
- Ridder P (2019) Craniomandibuläre Dysfunktion – Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien, 4. Auflage Urban & Fischer, München
- Ridder P, Kieferfunktionsstörungen und Zahnfehlstellungen mit Ihren Auswirkungen auf die Körperperipherie. ManMed (1998) 36, 194–212
- Dapprich, J, Studie an 150 CMD-Patienten. Vorgestellt auf der 52. Jahrestagung der DGFDT 2019
- Smukler H (1991), Okklusales Einschleifen im natürlichen und restaurierten Gebiss. Quintessenz-Verlag, Berlin und in meinem Buch
- Losert-Bruggner B, Kraniomandibuläre Dysfunktionen als Ursache von Insomnie. DFZ (2012), 12, 58–67