Restaurative Zahnheilkunde

Volkskrankheit MIH

Das MIH-Problem wächst; nicht nur die Sechs-Jahr-Molaren und die Frontzähne sind betroffen, sondern zunehmend auch die Zwölf-Jahr-Molaren und die Prämolaren, wie Prof. Dr. Dr. Norbert Krämer, Gießen, berichtet. Inzwischen leiden 30 Prozent der Zwölfjährigen an der Mineralisationsstörung.


Typisches Erscheinungsbild eines MIH-Zahns. Die Versorgung wurde alio loco mit GIZ versucht. (© Krämer, 9 Bilder)


Herr Professor Krämer, in Gießen hat die MIH-Forschung Tradition. Ihr Vorgänger Prof Dr. Werner E. Wetzel hat im Rahmen einer Dissertation die MIH-Prävalenz im Lahn-Dill-Kreis untersuchen lassen. Damals, 2003, lag die MIH-Prävalenz hier bei 5,9 Prozent. Sie haben die Studie weitergeführt …
Krämer:
… und das Ergebnis ist alarmierend. Die MIH-Rate stieg in der Region von 2003 bis 2015 um 60 Prozent. Zwar handelt es sich um eine lokale Untersuchung, aus meiner Sicht haben die Daten aber allgemeine Gültigkeit. Denn auch die DMS V (5. Deutsche Mundgesundheitsstudie) hat gezeigt, dass 28,7 Prozent der Zwölfjährigen unter MIH leiden.

Bei der Vorstellung der DMS V wurde das allerdings kaum thematisiert. Es standen die Parodontologie und die Alterszahnheilkunde im Fokus.
Krämer:
Unter anderem deshalb hat die DGZMK mit der DGKiZ im Mai 2018 die Pressekampagne „Molaren-Inzisiven Hypomineralisation, eine neue Volkskrankheit“ gestartet.

Mit Erfolg? Hat MIH endlich „eine Lobby“?
Krämer:
Ich denke ja. Immer mehr Experten und auch Politiker widmen sich dem MIH-Problem. Das Thema wird in der Öffentlichkeit diskutiert. Das ist sicherlich mit darauf zurückzuführen, dass die Strukturanomalie nicht mehr nur die Sechs-Jahr-Molaren und die Frontzähne betrifft, sondern mittlerweile auch Zwölf-Jahr-Molaren und die Prämolaren.

Wie ist das zu erklären?
Krämer:
Wir wissen zwar über die Ätiologie nichts Neues, aber aus meiner Sicht ist es logisch, wenn man sich die Dosis-Wirkungs-Beziehung anschaut. Sprich, wenn die Noxe in ausreichender Dosierung aufgenommen wird, muss man mit dem MIH-Befall auch der anderen Zähne rechnen, die nach der Geburt mineralisiert werden. Die derzeit geltende MIH-Definition muss deshalb überarbeitet werden.

Ändert sich damit auch das Therapiekonzept?
Krämer:
Nein, das Behandlungskonzept orientiert sich nach wie vor am MIH-Schweregrad. Es gibt nicht „die“ MIH-Behandlung. Mal sehen wir weiße, mal braune, mal opake Verfärbungen. Bei manchen Kindern brechen die Zähne unvollständig mineralisiert durch und weisen hohe Berührungsempfindlichkeiten (heiß/kalt) auf. Weisen MIH-Molaren einzelne weiß-cremige bis gelb-braune Verfärbungen im Bereich der Kauflächen und/oder der Höcker oder des oberen Kronendrittels auf, handelt es sich um Schweregrad A. Schwerwiegender ist das Auftreten überwiegend fehlmineralisierten Zahnschmelzes, der alle Höcker mehr oder weniger erfasst, aber nur geringfügige Hypoplasien erkennen lässt (Schweregrad B). Es treten auch Zähne mit defekter Kronenmorphologie auf, deren großflächige Mineralisationsstörungen mit ausgeprägten gelblich-bräunlichen Verfärbungen einhergehen (Schweregrad C). Allerdings sind viele Therapieempfehlungen allgemein gehalten. Sie unterscheiden zwischen milden, moderaten und schweren Defekten. Den Beurteilungskriterien fehlt jedoch die Verbindung zur praxisrelevanten Therapieoption.


Was kann dem Behandler helfen?
Krämer:
Sich an folgenden vier Fragen zu orientieren:

  • Hat das Kind Beschwerden? Etwa 10 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder leiden unter kälteempfindlichen bzw. berührungsempfindlichen Zähnen. Da besteht Behandlungsbedarf.
  • Handelt es sich um einen Defekt oder nur um eine Verfärbung? Eine Kavität muss natürlich gefüllt werden.
  • Sind die Beschwerden tiefergehend, ist bereits die Pulpa beteiligt? Gegebenenfalls sind endodontische Maßnahmen nötig.
  • Hat der Patient bzw. das Kind große Angst? Möglicherweise ist eine Narkose nötig, um den Zahn zu extrahieren.

Bewährt haben sich folgende Maßnahmen:

  • Fluoridieren: Weil die Oberflächen von MIH-Zähnen Risse aufweisen, also mindermineralisiert sind und der ganze Schmelz porös sein kann, gilt es die Oberflächen mit Fluoridlack zu behandeln. Zudem lassen sich mithilfe von Kalziumphosphaten (z. B. Tooth Mousse und Clinpro Tooth Creme) die MIH-Zähne remineralisieren.
  • Versiegeln: Die MIH-Zähne weisen je nach Ausprägung lediglich ein Zehntel der Härte des normalen Schmelzes auf. Das heißt, der Schmelz muss geschützt werden, sonst bricht zum Beispiel der MIH-Sechs-Jahr-Molar zusammen. Unsere Empfehlung ist eine Versieglung mit Komposit, adhäsiv, weil die Porositäten bis in das Dentin reichen. Ein Bonding genügt nicht, es muss ein Dentinadhäsiv sein. Wird der Schmelz nicht ausreichend durchdrungen und versiegelt, entstehen bzw. verbleiben Übersensibilitäten.
  • Temporäres Füllen: Wenn sich der Zahn im Durchbruch befindet, funktioniert keine adäquate Trockenlegung. Eine Adhäsivversorgung gestaltet sich entsprechend schwierig. Wir empfehlen deshalb das Abdecken mit dünnflüssigem Glasionomerzement (z. B. Fuji Triage). Durchbrechende Zähne müssen isoliert werden; das funktioniert mit Glasionomerzementen, weil sie ein sehr schlechter Wärmeleiter sind und die Pulpa nicht mehr gereizt wird. Bei größeren Defekten hilft es, ein kieferorthopädisches Band um den Zahn zu legen und dann einflächig mit dem Glas‧ionomerzement zu füllen. Der Vorteil: Der Zahn muss lediglich gereinigt werden, ein Beschleifen entfällt. Der Zahn ist anschließend unempfindlicher und kann weiter durchbrechen.
  • Temporärer Zahnersatz: Bei großen Defekten, wenn der ganze Zahn befallen ist, machen Stahlkronen Sinn. Sie haben eine Schichtstärke von nur 0,1 bis 0,2 mm und machen ein Beschleifen nahezu überflüssig. Das ist der große Vorteil gegenüber Komposit- und Zirkonkronen. Stahlkronen eignen sich auch für die zweiten Molaren, nicht nur für Milchzähne. Sie stoppen den weiteren Zusammenbruch der MIH-Zähne.
  • Definitive Versorgung: Je nach Defektgröße ist Komposit oder eine Krone bzw. Teilkrone indiziert. Wichtig bei Kompositrestaurationen ist es, die Restaurationsgrenzen möglichst ins Gesunde zu legen, nicht in den MIH-Bereich. Dafür muss man etwa 0,5 mm Zahnhartsubstanz entfernen. Bei größeren Defekten ist eine Teil- oder Vollkronenversorgung die Therapie der Wahl.

Plädieren Sie dafür, den befallenen Sechs-Jahr-Molaren so schnell wie möglich zu extrahieren?
Krämer:
Nein, wir bemühen uns, den Sechs-Jahr-Molaren zu erhalten, bis die Kinder 9,5 bis 10 Jahre alt sind.

Warum? Besteht nicht die Gefahr, dass sich damit der MIH-Befall ausweitet?
Krämer
: Das verhindern die oben genannten therapeutischen Maßnahmen. Sind die Kinder 9,5 bis 10 Jahre alt, lässt sich im Röntgenbild beurteilen, wie es um die Mineralisierung des Zwölf-Jahr-Molaren steht. Das weitere Vorgehen kann so exakter beurteilt werden, auch mit Blick auf die kieferorthopädischen Optionen.

Zurück zur MIH-Diagnose: Gibt es auch Fehldiagnosen? Wie schwierig ist die richtige Einschätzung?
Krämer:
Laut Definition der EAPD müssen die Sechs-Jahr-Molaren beteiligt sein. Sind zum Beispiel nur die Frontzähne beteiligt, kann ein Milchzahntrauma mit entsprechenden Mineralisationsstörungen fälschlicherweise als MIH eingestuft werden. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Vorgabe bei allen epidemiologischen Studien konsequent umgesetzt wurde.

Wie verhindert man Fehleinstufungen?
Krämer:
Indem man die Altersgruppe der Sechs- bis Zwölf-Jährigen exakt erfasst, indem die Untersuchung dem europäischen Standard entspricht und indem mabn die Zahnärzte entsprechend schult. Wir im Lahn-Dill-Kreis haben die Kollegen aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst entsprechend kalibriert. Nur geschulte Zahnärzte erkennen, ob es sich auch wirklich um MIH-Zähne handelt. Wir haben im Vorfeld unserer Studie zum Beispiel „Trockenübungen“ durchgeführt, quasi Hands-on-Kurse. Hilfreich ist dabei der MIH Treatment Need Index (MIH TNI), den eine internationale MIH-Arbeitsgruppe 2016 – auch wir waren beteiligt – erarbeitet hat. Damit ist es möglich, epidemiologische Studien an größeren Kollektiven sowie individualisierte Befunderhebungen und Therapieerhebungen an einzelnen Patienten durchzuführen. Der Index berücksichtig vor allem das Ausmaß der Zerstörung der Zahnhartsubstanz in Kombination mit den MIH-typischen Hypersensibilitäten (Bekes, Steffen, 2016).

Mit Karies hat MIH aber nichts zu tun?
Krämer:
Primär nicht. Die Kariesgefahr spielt natürlich eine Rolle, vor allem, wenn die ersten Abplatzungen auftreten. Zudem haben MIH-Zähne eine raue Oberfläche sowie schlechte Substanz und sind insofern besonders kariesanfällig, weshalb die therapeutischen Maßnahmen sehr wichtig sind.

Wie steht es mit der Ursachenforschung. Gibt es neue Erkenntnisse? Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung sollen ja Weichmacher aus Kunststoffen spielen, die mit der Nahrung aufgenommen werden …
Krämer:
Jüngste Untersuchungen deuten darauf hin, dass aufgenommenes Bisphenol A bei der Entstehung eine große Rolle spielt. Nach wie vor werden als Ursachen auch Vitamin-D-Mangel, Medikamentenverabreichungen und Erkrankungen während der ersten drei Lebensjahre, Dioxineinfluss und Substanzfreisetzungen aus Kunststoffsaugerflaschen oder Nuckeln diskutiert. Da die Schmelzbildung der Sechs-Jahr-Molaren und mittleren Frontzähne zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, geht man davon aus, dass die Ursachen in diesem Zeitraum liegen müssen. Genetische Dispositionen als MIH-Auslöser und sozioökonomische Hintergründe scheiden als Ursachen aus. Mädchen und Jungen sind gleich häufig betroffen.

 

Therapieoptionen bei MIH

Schweregrad A:

  • Sichtbar sind einzelne, weiß-cremefarbene bis braune Flecken an den Kauflächen oder Höckerspitzen der Molaren, oft auch der vestibulären Flächen von Schneidezähnen.
    Bei intakter Oberfläche, Schmerzfreiheit und ohne Kariesrisiko lässt man den Sechs-Jahr-Molaren durchbrechen, fluoridiert den Zahnschmelz und deckt, wenn möglich, den Bereich, der beeinträchtigt ist, mit einem Versiegler oder niedrigviskösen Komposit ab. Denn der MIH-Schmelz besitzt gerade einmal ein Zehntel der Härte des normalen Schmelzes. Ohne Abdeckung könnte der Zahn unter der Kaubelastung einbrechen

Schweregrad B:

  • Sichtbar ist überwiegend gelb-brauner Schmelz an einzelnen Höckern von Molaren mit einzelnen Schmelzeinbrüchen bzw. der gesamten vestibulären Fläche von Schneidezähnen.
  • Die Behandlung läuft wie beim Schweregrad A, aber: Treten Einbrüche auf, müssen Berührungsempfindlichkeiten und Sensibilitäten einkalkuliert und die Fissur im Durchbruch muss mit einem dünnfließenden Glasionomerzement versorgt werden.

Schweregrad C:

  • Die Mineralisationsstörung ist großflächig mit gelb-braunen Verfärbungen und Defekten an den Zahnkronen von Molaren und Schneidezähnen.
  • Die Zähne werden zunächst mit einem Glasionomerzement abgedeckt, der Zahnarzt begleitet den weiteren Durchbruch. Unter Lokalanästhesie erfolgt dann die Abdeckung der vollständig durchgebrochenen Zähne mit Komposit. Eine Alternative ist die Verwendung konfektionierter Stahlkronen. Sind die Kinder zehn oder zwölf Jahre alt, wird entschieden, ob es sinnvoll ist, diese Zähne zu erhalten.
  • Schaut der Zwölf-Jahr-Molar im Röntgenbild unauffällig aus und ist der Weisheitszahn angelegt, könnte man auch extrahieren und die Molaren 2 und 3 bzw. 7 und 8 kieferorthopädisch entsprechend einstellen. Das wird in Skandinavien häufig so gemacht, in Deutschland ist man eher zurückhaltend.

(Quelle: Modifiziert EAPD)

 

Der Experte

Prof. Dr. Dr. Norbert Krämer Universitätsprofessor und Direktor der Poliklinik für Kinderzahnheilkunde am Universitätsklinikum Gießen Marburg, Standort Gießen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), Vorstand der DGZMK (Kinderzahnheilkunde), Mitglied im Vorstand der International Association of Paediatric Dentistry (IAPD)