Extrahierte Zahnwurzeln statt Knochenblöcke?

Schwarz: “Wir werden in naher Zukunft etliche Lehrbücher umschreiben müssen”

Vor genau einem Jahr, auf dem DGI-Kongress in Düsseldorf, stellte DGI-Vizepräsident Prof. Dr. Frank Schwarz eine präklinische Studie zur Transpositionierung extrahierter Zahnwurzeln vor, die die Fachwelt aufhorchen ließ. Inzwischen verbucht er auch erste klinische Erfolge. Kann man sich für den Kieferkammaufbau bald aufwendige Eingriffe zur Knochenentnahme ersparen? Das DENTAL MAGAZIN hat nachgefragt.



Auf den ersten Blick meint man, Ihren Ansatz schon zu kennen, erst auf den zweiten Blick wird das Bahnbrechende deutlich …

Schwarz: Das stimmt, und ist darauf zurückzuführen, dass das Ganze so naheliegend ist. Unsere präklinischen Studien haben gezeigt, dass man Zahnwurzeln lateral transpositionieren kann und autogene Knochenblöcke damit ergänzt oder ersetzt. Aktuell laufen die klinischen Anwendungen, allerdings noch bei den Idealfällen, bei den retinierten Zähnen.

Also bei den überzähligen Zähnen, etwa Weisheitszähnen?

Schwarz: Richtig, sofern sie ohne Pathologie einhergehen.

Denken Sie auch schon über allogene Zahntransplantationen nach?

Schwarz: Das ist zu früh. Derzeit prüfen wir, wie sich kompromittierte, also infektiös veränderte Zähne, „Endo- und Paro-Zähne“ beispielsweise, verhalten. In der Präklinik haben sich die Wurzeln dieser Zähne schon bestens bewährt. Und das überprüfen wir nun bei Patienten. Selbstverständlich denken wir auch über die Etablierung von Gewebebänken für „Zähne“ nach. Bis dahin müssen aber noch viele Fragen geklärt werden.

Sie haben auf der dent update-Fortbildung des Deutschen Ärzte-Verlags Ende September in Frankfurt einen spannenden Fall zur Diskussion gestellt: Nach der Extraktion wurde eine Zahnwurzel zum Aufbau des Kieferknochens verwendet. Der entnommene Weisheitszahn wurde „zugeschnitten“ und das vorbereitete Zahnwurzelteil mit Mini-Schrauben auf dem Kieferknochen befestigt, um ihn zu verbreitern. Das Ergebnis: ein perfektes Implantatlager sechs Monate später – ohne zusätzlichen Einsatz von Eigenknochen oder Biomaterialien. Das Verfahren erinnert auch an die so genannte Extrusionstherapie, die ebenfalls der Implantatbettaufbereitung dient. Gibt es da irgendwelche Parallelen?

Schwarz: Nein, es gibt zwischen diesen beiden Verfahren keine Parallelen. Wir haben einen komplett anderen Ansatz. Wir führen eine laterale Transposition durch. Das heißt, wir setzen die Zähne vor den Kieferkamm. Wir extrudieren keine Zähne, wir transpositionieren eine biologische Matrix, nämlich die Zahnwurzel.

Wieso ist man erst so spät auf die Idee der Transposition überzähliger Zähne gekommen? Man war doch schon ganz nah dran…

Schwarz: Das ist ja häufig so, weil wir sehr komplex denken. Und auf das Naheliegende, das Einfache kommt man oft zuletzt. Auch ich bin nur durch einen Zufallsbefund im Rahmen eines Versuchs mit komplett anderer Zielsetzung darauf gestoßen.

Wann dürfen wir mit den ersten veröffentlichten Studien rechnen?

Schwarz: Die präklinischen Studien werden derzeit publiziert. Die erste wird hoffentlich noch bis zum Jahresende erscheinen und dann chronologisch die Ergebnisse der Untergruppenvergleiche darstellen. Hier haben wir alle methodologischen Register einschließlich histologischer, immunohistochemischer und biomechanischer Testverfahren sowie dreidimensionaler Bildgebung (micro CT) gezogen, um eine valide Bewertung dieses Verfahrens sicherstellen zu können. Darauf sind wir als Arbeitsgruppe vom Universitätsklinikum Düsseldorf sehr stolz.

Wann könnte Ihrer Einschätzung nach diese Behandlungsoption in der Praxis ankommen?

Schwarz: Das kann ich nicht sagen. Das Schöne an unserem Projekt ist, dass es keinen kommerziellen Hintergrund hat. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützt. Das geschieht bei zahnmedizinischen Forschungsprojekten äußerst selten. Der Vorteil: Wir können uns frei entfalten und uns die Zeit nehmen, erst alles zu erarbeiten und dann daraus klinische Empfehlungen abzuleiten. Es geht mir primär auch um ein Umdenken: Schließlich entfernen wir allein in Deutschland Jahr für Jahr ca. 13 Millionen Zähne. Dieses biologische Material hat enormes Potenzial. Und das wollen wir zukünftig besser nutzen.

Laufen an anderen Hochschulen ähnliche Studien?

Schwarz: Es gibt definitiv einen Trend in den letzten Jahren, den Zahn als biologisches Material wieder etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Vor allem „der Zahn als Augmentationsmatrix“ dürfte aktuell dem Zeitgeist entsprechen.

Lautet Ihr Tipp nun: „Verwahrt die extrahierten Zähne“?

Schwarz: Nein, das ist nicht die Botschaft. Wir erforschen zunächst, wohin dieser Ansatz führt. Das sehe ich als Wissenschaftler als originäre Aufgabe der Hochschule. Und wenn wir die offenen Fragen beantwortet haben, werden wir klinische Schlussfolgerungen ziehen können.

Von einer Sache bin ich aber bereits jetzt fest überzeugt: Wir werden in naher Zukunft etliche Lehrbücher umschreiben müssen.