Implantatrekonstruktion im jugendlichen Alter
Ein traumatischer Frontzahnverlust bei einem Jugendlichen im Alter von 13 Jahren stellt das behandelnde Team vor große Herausforderungen. Vor allem gilt es abzuwägen, ob oder welche interdisziplinären Maßnahmen notwendig und zielführend sind. Im Fokus steht der Erhalt des Hart- und Weichgewebes in der Wachstumsphase. Zu welchem Zeitpunkt ist eine funktionelle und ästhetische Rekonstruktion realisierbar?
Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die bei der Ausübung ihrer zum Teil gefährlichen Hobbies – wie den Trendsportarten Skaten, Mountainbiken, (Eis-) Hockey und vieles mehr – Zähne verlieren, nimmt in den vergangenen Jahren deutlich zu. Trotz entsprechender Schutzkleidung und Helmen werden bei Stürzen beziehungsweise Unfällen die Frontzähne im Oberkiefer in Mitleidenschaft gezogen. Ein Verlust eines bleibenden Zahnes in der Wachstumsphase des Jugendlichen „verwächst sich nicht einfach“ – er kann schwerwiegende Folgen haben.
Traumata in der orofacialen Region stellen immer komplexe Verletzungen dar und bedürfen einer weitblickenden Diagnostik. Neben der Ästhetik und Funktionseinschränkung ist das vor allen Dingen die anatomische Entwicklung des Alveolarknochens, der durch die Funktionslosigkeit atrophiert. Diese Atrophie ist durch den eigenen Körper auch in der Wachstumsphase nicht umkehrbar. Konservative Versorgungsmöglichkeiten in Form von Klebebrücken oder Teilprothesen sind meist unbefriedigend und wirken der fortschreitenden Atrophie nicht entgegen. Eine Implantatversorgung bei nicht abgeschlossenem Kieferwachstum ist mit Risiken behaftet. Da Implantate ankylotisch einheilen, nehmen sie nicht am Alveolarfortsatzwachstum teil. Diese Implantate geraten im Laufe der Zeit im Vergleich mit den Nachbarzähnen in Infraokklusion.
Die dann zu kurz geratene Krone müsste des Öfteren angepasst oder erneuert werden [1, 2]. Eine ausgeprägte Infraokklusion des Implantats könnte einen Gewebeverlust und Knochenabbau am Nachbarzahn initiieren, was Zahnfleischtaschen und Wurzelkaries auslösen könnte. Abhängig von den biologischen Wachstumsstadien und der Patientencompliance müssen die Kriterien für eine Implantatrekonstruktion im jugendlichen Alter bewertet und fallabhängig entschieden werden. Das Wachstum ist sehr individuell und läuft in unterschiedlichen Phasen ab. Das transversale Wachstum des Oberkiefers geht mit der Verbreiterung der Schädelbasis einher und ist mit der Pubertät weitgehend abgeschlossen. Das sagittale Wachstum ist für eine Abwärts- und Vorwärtsentwicklung des Oberkiefers verantwortlich und als Letztes ist das vertikale Wachstum mit Veränderungen der Orbita sowie der Kiefer- und Nasenhöhle abgeschlossen [3].
Ein ästhetischer, langzeitstabiler Erfolg ist nur schwer vorhersagbar, muss jedoch in jedem einzelnen Fall mit den positiven morphologischen und psychosozialen Aspekten abgewogen werden. Der Autor verfolgt, wann immer möglich, Konzepte zum Erhalt des Knochens, bis das dreidimensionale Kieferwachstum abgeschlossen ist – bei Jugendlichen ist das in der Regel zwischen dem 16. und 18.Lebensjahr – um anschließend eine Rekonstruktion mit Implantat regulär und vorhersagbar zu realisieren.
Das Korrigieren der Infraokklusionssituation erfolgt vor allem über die Wiederherstellung des Knochens und der
Weichgewebe. Dr. Thabet Arar
Eine Möglichkeit zum Erhalt der anatomischen Strukturen ist die Replantation eines avulsierten Zahnes – vorausgesetzt, er wurde im richtigen Medium in einer Zahnrettungsbox oder in Milch und nicht zu lange außerhalb des Mundes gelagert. Im Folgenden wird ein Therapiekonzept nach Avulsion eines seitlichen oberen Schneidezahns vorgestellt, der unter massiver Krafteinwirkung vollständig aus dem Zahnfach katapultiert worden war. Die Avulsion wird den Dislokationsverletzungen zugeordnet und grenzt sich somit von den Frakturverletzungen ab.
Implantatrekonstruktion: Die Vorgeschichte
Im Februar 2012 stürzte ein 13 Jahre alter Junge in der Schule, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Zahnarztpraxis lag, und verletzte sich im Bereich der unteren Gesichtshälfte mit deutlich erkennbarer Schwellung der Oberlippe. Nach Abklärung, dass keine schwerwiegenden und gesundheitsbedrohlichen Verletzungen vorlagen, wurde der Junge sofort in der Zahnarztpraxis vorstellig, wo die Zähne, das Endodont, das Prodontium, der Alveolarfortsatz und die Gingiva bezüglich ihres Schädigungsgrades beziehungsweise Unversehrtheit kontrolliert wurden. Die Zähne 11 und 21 waren abgebrochen, mit einer ausgedehnten Pulpaexposition bei 11 und einer kleineren an 21. Eine Vitalitätsprüfung an beiden Zähnen war positiv. Der seitliche Schneidezahn 22 war komplett avuliert. Dieser wurde bis zur endgültigen Diagnosestellung in einer SOS- Zahnbox gelagert. Die Zahnbox enthält ein physiologisches Zellnährmedium sowie ein Puffersystem zur Stabilisierung des pH-Wertes und ermöglicht das Überleben von Zementoblasten und Odontoblasten an der Wurzeloberfläche bis zu 25 Stunden.
Bei weiteren Untersuchungen wurden Kieferfrakturen anhand einer DVT-Aufnahme ausgeschlossen. Als Notfalltherapie erfolgte die Wurzelkanalbehandlung an Zahn 11. Der desinfizierte Kanal wurde mit einer antibakteriell wirkenden Paste (Ledermix) gefüllt und mit einem provisorischen Material abgedeckt [4]. An 21 erfolgte eine Überkappung der kleinen Exposition als Erhaltungsversuch der Pulpa mit den gleichen Materialien [5]. Aufgrund der vollständigen Dislokation des Zahnes 22 war die Alveole mit einem Blutkoagulum gefüllt, das durch sanftes Spülen mit steriler Kochsalzlösung entfernt wurde, um eine drucklose, zell- und gewebeschonende Replantation zu ermöglichen. Das Entfernen mit scharfen Instrumenten ist kontraindiziert, da dadurch das am Knochen haftende parodontale Ligament, das für die Einheilung und das Überleben des Zahnes maßgebend ist, verletzt beziehungsweise zerstört werden würde. In der Alveole befanden sich keine weiteren Knochen- oder Zahnfragmente, sodass der Zahn 22 mit Fingerkraft in der anatomisch korrekten Position reponiert werden konnte. Die Stabilisierung der Zähne erfolgte mithilfe einer Drahtligatur [6]. Engmaschige Kontrollen zeigten eine regelrechte Heilung und einen beschwerdefreien Verlauf.
Implantatrekonstruktion: Die Behandlungstherapie
Mit den Eltern und dem Hauszahnarzt wurde der Behandlungsansatz zum Erhalt der Gewebestrukturen besprochen und auf die Risiken im weiteren Verlauf hingewiesen [7]. Sechs Wochen nach dem Unfall erfolgte die endodontische Weiterbehandlung des Zahnes 11 unter mikroskopischer Sicht und einer Adhäsivfüllung zum Abschluss beim Hauszahnarzt, Dr. Jürgen Ranft M.Sc. (Praxis Triadent Mitte, Berlin). Nach zirka einem Jahr musste der Zahn 22 ebenso wie im weiteren Verlauf der Zahn 21 aufgrund von Schmerzempfindlichkeit einer Wurzelkanalbehandlung unterzogen werden [8]. Die Heilung des avulierten Zahns entwickelte sich in den folgenden zwei Jahren ankylotisch. Die Resorption der Zahnwurzel wurde 2014 beobachtet, wobei der Patient beschwerdefrei war. Mit ihm und den Eltern wurde besprochen, den Zahn so lange wie klinisch vertretbar in situ zu belassen, um dann ein Implantat zu inserieren, nachdem die Wachstumsphase des Alveolarfortsatzes weitgehend abgeschlossenen ist [9]. Aufgrund der Ankylose kam es zu einer Infraokklusion des Zahnes 22, was zu ästhetischen Problemen führte. Mit dem Ziel, den Abschluss des Kieferwachstums abzuwarten, wurde der Zahn in situ belassen und mit Kompositaufbauten provisorisch, der anatomischen Kronenlänge des Nachbarzahns angeglichen, verlängert. Die weiteren Kontrollen orientierten sich an den Empfehlungen der IADT (International Association of Dental Traumatology).
Im Juni 2017 wurde ihm Rahmen einer Kontrolluntersuchung aufgrund des ästhetischen Problems und eines Röntgenbefundes entschieden, die definitive Planung der Frontzahnrestauration mit dem überweisenden Zahnarzt, dem Patienten und den Eltern zu besprechen. Die weiteren therapeutischen Maßnahmen zur Stabilisierung der Frontzahnsituation waren die Überkronung der mittleren Schneidezähne mit einem Langzeitprovisorium und Brückenanhänger in regio 22. Die Wurzel an Zahn 22 war vollständig resorbiert. Im Röntgenbild stellte sich ausschließlich die Wurzelfüllung dar. Ein horizontaler und vor allen Dingen vertikaler Knochenaufbau wurde geplant, um die Infraokklusionssituation zu korrigieren und ein ausreichendes Knochenvolumen sowie ein ästhetisches Gingivaprofil zu erzielen. Das festsitzende Langzeitprovisorium ermöglicht eine drucklose Heilung des augmentierten Bereichs.
Im Mai 2018 wurden die wurzelbehandelten mittleren Schneidezähne beschliffen, der Zahn 22 extrahiert, die residuale Wurzelfüllung mithilfe einer Endofeile entfernt und eine temporäre Brücke mit Brückenanhänger in regio 22 eingesetzt. Die knochenaugmentativen Maßnahmen wurden zwei Monate später realisiert. Mit einem Knochenspan, gewonnen aus der Retromolarregion im Unterkiefer (Piezo-Surgery/ Mectron), sollte das Knochendefizit in regio 22 im Sinne der Schalentechnik nach Khoury [10], aufgebaut werden. Um Dehiszenzen im sichtbaren Bereich zu vermeiden, erfolgte die Schnittführung, die zwei vertikale Entlastungsinzisionen verband, weit im Vestibulum [11]. Ein Mukosalappen wurde nach palatinal präpariert und die Knochenscheibe an die zu augmentierende Region angepasst. Um die Blutversorgung zu sichern, wurde ein mesialer und distaler Knochenkontakt angestrebt.
Wir schöpfen erhaltende Maßnahmen aus, um eine Implantation auf das Wachstumsende zu verschieben. Dr. Thabet Arar
Nachdem die Kanten abgerundet waren, wurde der Block mithilfe einer 6 mm langen Knochenschraube fixiert. Mit autologen Knochenspänen – vermischt mit Blut aus dem OP-Bereich und bovinem Knochenersatzmaterial (MinerOss X/ BioHorions Camlog) – wurde das alveoläre Defizit verfüllt. Um den Knochenaufbau während des Umbauprozesses zu schützen und das Eindringen von Weichgewebszellen zu verhindern, wurde eine reißfeste, langsam resorbierbare Kollagenmembran (Mem-Lok RCM/ BioHorizons Camlog) eingebracht. Die plastische Deckung erfolgte spannungsfrei. Nach regelrechter Wundheilung konnte die Naht nach zwei Wochen entfernt werden. Sechs Monate später stellte sich die Knochenheilung bei einer Röntgenkontrolle sehr gut dar. Das Alveolarfortsatzknochen war anatomisch ausgeformt. Es zeigte sich eine stabile attached Gingiva.
Das Implantat konnte inseriert werden, indem zunächst durch einen minimalinvasiven Kieferkammschnitt die Knochenschraube entfernt wurde, um anschließend das Implantat 3,3 mm Ø / L 11 mm (CONELOG SCREW-LINE /Camlog) nach prothetischen Kriterien leicht palatinal orientiert einzubringen. Das Weichgewebe wurde mit Einzelknopfnähten verschlossen und die provisorische Brücke eingesetzt. Die Ovate-Pontic-Gestaltung des Brückenanhängers formte schon in der Einheilphase die periimplantäre Mukosa aus. Nach viermonatiger, gedeckter Einheilung wurde das Implantat freigelegt. Die definitive Versorgung – Vollkeramikkronen und individuelles Keramikabutment verklebt auf einer Titanbasis CAD/CAD – wurde beim Hauszahnarzt realisiert.
Implantatrekonstruktion: Fazit
Die Rekonstruktion traumabedingt fehlender Frontzähne der zweiten Dention bei Jugendlichen stellt hohe Anforderungen an eine vorhersagbare Planung. Eine implantatprothetische Versorgung in der Wachstumphase ist wegen vieler ästhetischer Misserfolge umstritten. Dadurch dass ein Implantat ankylotisch einheilt, kann es der dreidimensionalen Kiefer- und Alveolarfortsatzentwicklung nicht folgen. Abhängig vom Kieferwachstums ist mit Infraokklusionen sowie Hart- und Weichgewebeverlust, auch an den Nachbarzähnen, zu rechnen. Die Implantatkrone muss bis zum Abschluss des Wachstums sehr oft erneuert werden. Dies ist nicht nur ein kostenintensives Behandlungskonzept, sondern es bleibt ein gewisses Risiko, dass das Implantat für die definitive Rekonstruktion an der richtigen Position steht. Doch kann dies nach Abwägung aller Kriterien die einzige Therapieoption für bestimmte Situationen sein. Daher bevorzugen wir, erhaltende Maßnahmen zu ergreifen und auszuschöpfen, um die Implantation auf das Wachstumsende zu verschieben. Die Risiken, die eine Replantation und die eventuelle Atrophie des Kieferknochens bergen, müssen den Eltern und dem Jugendlichen eingehend dargelegt werden. Auch muss an die Geduld in der Überbrückungsphase appelliert werden. Denn das Ziel ist es, ein perfekt aussehendes ästhetisches und vor allen Dingen ein langzeitstabiles Endergebnis zu erreichen.
Der Experte
Dr. Thabet Arar
Fachzahnarzt für Oralchirurgie, Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie, niedergelassen in eigener Praxis in Dresden.
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