Implantate bei Kindern?
Gibt es ein Mindestalter für Implantate? Sollte man bei jüngeren Patienten sicherstellen, dass das Wachstum abgeschlossen ist? Was tun bei traumatischem Zahnverlust bei einem 12- oder 14-Jährigen, was unternehmen bei Nichtanlagen? Die Meinungen dazu gehen auseinander. Wird eine Leitlinie, die voraussichtlich Ende 2016 in Kraft tritt, Klarheit schaffen können?
Nur in den allergrößten Ausnahmefällen ist eine Implantation vor dem 12. Lebensjahr in Erwägung zu ziehen“, stellt Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden, Kassel, klar. Die Prognose sei schlecht, die Osseointegration funktioniere mangelhaft und das Kieferwachstum sei noch enorm. Doch anschließend könne man unter Abwägung von Vor- und Nachteilen Implantate setzen, sagt Terheyden, und so geht er auch in seiner Kasseler Klinik vor.
Wenig Evidenz
Die wissenschaftliche Datenlage auf diesem Gebiet lasse allerdings zu wünschen übrig, sagt Dr. Karl-Ludwig Ackermann, Filderstadt. Zurzeit dominierten vor allem Einzelmeinungen von Kollegen, die sich seit Jahren vermehrt mit traumatischem Zahnverlust bei Kindern und Jugendlichen sowie syndromalen Nichtanlagen im frühkindlichen Alter auseinandersetzten. Deshalb begrüßt er auch die geplante Leitlinie zur syndromalen Nichtanlage, also letztlich zu Implantaten bei Kindern. Auch Ackermann hat in seiner Praxis Kinder und Jugendliche nach Abwägen der Vor- und Nachteile implantiert. Die meisten dieser Patienten betreut er bis heute. Der Defekt nach dem frühen Zahnverlust bzw. der Nichtanlage lasse sich nach dem Implantieren so klein wie möglich halten, meint er. Abwarten sei kontraproduktiv, weil das Knochenwachstum infolge der Nichtaktivität durch Belastungsmomente in die „Inaktivitäts-Atrophie“ übergehe. „Insofern ist die Implantation für mich immer das erste Mittel der Wahl.“
Infraposition
Das Problem ist bekannt: Der Alveolarfortsatz wird ausgebildet vom Wachstum der bleibenden Zähne. „Ankylosierte Zähne bzw. Implantate, die in der Wachstumsphase gesetzt werden, wachsen nicht mit, die Länge der Schneidekante und das Emergenzprofil im marginalen Bereich entsprechen nicht mehr dem des kontralateralen Zahns“, bringt es Dr. Jan Tetsch, Münster, auf den Punkt. Er plädiert für das Implantieren bei Jugendlichen nach Frontzahntrauma und hat auch seinen 15-jährigen Sohn nach unfallbedingtem Zahnverlust implantiert. „Die späteren Korrekturen der Prothetik sind mit einfachen Mitteln möglich“, unterstreicht er. Und das Problem „Infraposition“ löst er mit der „modifizierten Buser-Regel 3“, siehe Interview „Implantation in die Zukunft“.
In welchem Umfang korrigiert werden müsse, hänge von der Implantatposition und vom Alter ab, ergänzt Terheyden. Der vordere Unterkiefer wächst nach der Kindheit kaum noch, während insbesondere im vorderen Oberkiefer noch erheblicher Zuwachs zu erwarten ist. Am schnellsten wächst der Oberkiefer bei Kindern in der Zeit des Zahnwechsels von 5–12 Jahren mit etwa 5 mm vertikalem Zuwachs . Danach flacht sich die Wachstumskurve etwas ab mit etwa 3 mm Zuwachs von 13–16 Jahren im Oberkiefer. Am langsamsten wird das Wachstum im Zeitraum von 16–30 Jahren mit etwa nur noch 1,5 mm im Durchschnitt. Im Alter von 30 Jahren könnte eine Implantatkrone somit 1 bis 2 mm – je nach Kieferregion – kürzer sein als der Nachbarzahn (Thilander et al. 2001 und 2009), wenn sie z. B. mit 18 Jahren gesetzt wurde. Terheyden: „Das ist der Nachteil der frühen Implantation, der Vorteil aber ist ein Stopp des weiteren Knochenabbaus.“
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), Prof. Dr. Norbert Krämer, bleibt skeptisch. Sowohl er als auch Vertreter der European Academy of Paediatric Dentistry (EAPD) mahnen zur Vorsicht, da vorhersagbare Erfolge in der Literatur nicht beschrieben seien.
Protokoll umgestellt
Für einen noch späteren Implantationszeitpunkt als 18 Jahre plädiert Prof. Dr. Wael Att. Der Oberarzt an der Klinik für Zahnärztliche Prothetik der Universitätsklinik Freiburg und Leiter des Postgraduiertenprogramms implantiert Männer grundsätzlich erst ab 23 Jahren, Frauen erst ab einem Alter von 26 Jahren. In diesem Alter reduziere sich das Kieferwachstum auf ein Minimum. „Wir haben in unserer Klinik das Protokoll vor vier Jahren entsprechend geändert.“ Obligatorisch werden in Freiburg zudem präimplantologische Diagnostikmaßnahmen durchgeführt, also: zwei Fernröntgenaufnahmen im Abstand von sechs Monaten.
Das sei das Ende der implantologischen Versorgung von jungen Erwachsenen und Jugendlichen, befürchtet Ackermann. Damit nehme man diesen Menschen zu einem frühen Zeitpunkt die Chance der Therapie und ein Stück weit die Lebensqualität.
Zudem warnt er vor Fernröntgenaufnahmen im jugendlichen Alter aufgrund des strahlenbiologischen Risikos. „Alle Studien, die ich kenne, wie beispielsweise von Daftary et al. und vielen weiteren Gruppen, berichten über Implantatinfrapositionen, wenn Implantate in einem jugendlichen Alter gesetzt worden sind“, entgegnet Att. Speziell gefährdet sind Jugendliche mit vertikalem Gesichtswachstum „Dieses Problem besteht, und deshalb implantieren wir in unserer Klinik erst später.“ Adhäsivbrücken und kieferorthopädische Lösungen für Kinder mit Nichtanlagen seien gute Alternativen, bis das Gesichtswachstum abgeschlossen sei.
Infraposition der Implantate als Folge früher Implantationen
Wer bei Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen implantiere und fehlende Zähnen ersetze, müsse einkalkulieren, dass eine Infraposition der Implantate irgendwann komme, vor allem bei Frauen und Patienten mit einer hohen Lachlinie bzw. mit kürzerer Oberlippe. Zwar lasse sich, sagt Att, die bestehende Krone erneuern, um die Länge mit Nachbarzähnen auszugleichen, nicht aber die höhere Position der Gingiva. Dafür brauche es eine chirurgische Intervention eines sehr erfahrenen Behandlers.
Letztlich müssen die Eltern zusammen mit ihren Kindern die Entscheidung treffen, „die stets sehr individuell ausfallen wird“, wie Tetsch, Ackermann und Terheyden betonen. Eine sichere Prognose des Kieferwachstums sei leider nicht möglich, weiß Terheyden. Fernröntgenaufnahmen im Abstand von sechs Monaten befürwortet aber auch er.
Leitlinien werden Klarheit schaffen
Die Leitlinie „Zahnimplantatversorgungen bei multiplen Zahnnichtanlagen und Syndromen“ werde Klarheit schaffen, eine Richtung vorgeben und eine große Hilfe für die Praxis sein, meint Terheyden. Am 25. Juni, auf dem zweiten DGI-Sommersymposium in Kassel, werden erstmals die bisher entstandenen oder in Vorbereitung befindlichen Leitlinien in der Implantologie vollständig und inklusive der Entstehungsgeschichte präsentiert und diskutiert, auch die Leitlinie zu den Implantaten bei Kindern und Jugendlichen.
Das Interview mit Dr. Jan Tetsch zum Thema finden Sie hier.