Working in the Dark
„Wenn ich an die Wurzelbehandlung denke, wird mir ganz anders“, rein intuitiv würde man diese Aussage wohl einem schmerzgeplagten Patienten zuschreiben. Mit Blick auf eine schwedische Studie könnte sie aber durchaus von einem Zahnarzt stammen. Denn der Untersuchung zufolge verbinden viele Behandler endodontische Eingriffe mit Stress, Frustration und Erschöpfung. Über diesen häufig vernachlässigten psychologischen Aspekt der Endodontie spricht Prof. Dr. Ove Peters, University of Queensland, Brisbane, Australien.
Herr Prof. Dr. Peters, wenn Sie heute auf das Feld der Endodontie schauen, was sind Ihrer Meinung nach die „Hot Topics“ auf diesem Gebiet?
PETERS: Nun, das kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Endodontie betrachtet. Patienten sprechen über Kosten und darüber, ob wurzelbehandelte Zähne ein gesundheitliches Problem sein können. Zahnärzte beschäftigt eher die Frage nach den besten Techniken, Instrumenten oder Wurzelfüllmaterialien. Als viel beachteter Trend spielen in diesem Zusammenhang minimalinvasive Behandlungsmethoden eine Rolle. Konkret geht es dabei etwa um eine dentinschonende Aufbereitung oder die Präparation kleinerer Zugangskavitäten.
Was wäre im Gegensatz zu diesen viel diskutierten Punkten ein Thema, über das eigentlich zu wenig gesprochen wird?
PETERS: Es gibt tatsächlich einen sehr interessanten Aspekt der Endodontie, der zwar bereits wissenschaftlich untersucht wurde, über den man aber nur selten etwas hört: die Wurzelbehandlung als mentale Herausforderung für den Behandler. Schließlich handelt es sich hierbei nicht nur für Patienten, sondern auch für Zahnärzte um eine besondere Stresssituation. Denn im endodontischen Workflow kann es eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren geben – angefangen bei eingeschränkten Lichtverhältnissen bis hin zur Tatsache, dass sich der Behandlungserfolg erst über ein Röntgenbild verifizieren lässt. Wohl jeder endodontisch tätige Zahnarzt hat schon einmal vor dem Röntgengerät gestanden und gehofft, dass die Aufnahme ein gutes Ergebnis liefert. Immerhin hat man es nicht selten mit Patienten zu tun, die einen erheblichen Leidensdruck verspüren und daher auch mit hoher Erwartungshaltung in die Behandlung gehen.
Sie erwähnten, dass die Grundhaltung von Behandlern zur Endodontie bereits zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurde. Was genau wurde hier untersucht und zu welchem Ergebnis kamen die Forscher?
PETERS: Exakt zu diesem Thema wurde im Jahr 2017 unter dem Titel „Working in the Dark“ die Arbeit einer schwedischen Forschungsgruppe [1] veröffentlicht. Sie gingen der Frage nach, welches Verhältnis zur Endodontie Allgemeinzahnärzte womöglich davon abhält, bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen. Im Rahmen ihrer qualitativen Analyse von insgesamt sieben Gruppen- Interviews mit je vier bis sechs schwedischen Zahnärzten fanden die Wissenschaftler dabei heraus, dass endodontische Eingriffe vielfach mit einer Reihe von negativen Gefühlen assoziiert waren. So wurden Wurzelbehandlungen von den Studienteilnehmern als komplexe Vorgänge beschrieben, die oftmals mit einem Gefühl des Kontrollverlustes einhergingen. Für die befragten Allgemeinzahnärzte war die Endodontie demnach häufig mit Stress, Frustration und Erschöpfung verbunden.
Als Patient würde mich das Wissen um diese Studienergebnisse ziemlich verunsichern. Können Sie mich beruhigen?
PETERS: Um diese Ergebnisse richtig einzuordnen, muss man sich vor Augen führen, dass hier nach der subjektiven Wahrnehmung der Behandler gefragt wurde. Ob die beschriebenen Gefühle in der jeweiligen Situation angebracht sind, ist noch einmal eine andere Frage.
Immerhin liegt die Erfolgsrate in der Endodontie mit rund 90 Prozent auf einem sehr hohen Niveau, wenn alles normal verläuft. Insofern müssen sich unsere Patienten auch angesichts dieser Untersuchung keine Sorgen machen.
Aber können Sie die Studienergebnisse aus eigener Erfahrung oder dem Austausch mit Kollegen bestätigen? Ist die „Angst vor der Endo“ bei Behandlern Ihrem Eindruck nach ein verbreitetes Problem?
PETERS: Ja, ich bin davon überzeugt, dass es sich hierbei um ein verbreitetes Phänomen handelt. Bei Zahnärzten, die nicht explizit auf Endodontie spezialisiert sind, gibt es meiner Erfahrung nach durchaus die Sorge, dass eine Behandlung nicht das gewünschte Ergebnis liefern könnte. Aus dieser Unsicherheit heraus entsteht dann eine Stresssituation. Ganz grundsätzlich kann man es wohl auf die einfache Formel herunterbrechen: Unsicherheit generiert Angst. Und Angst lässt sich rational ja gar nicht managen. Daher gilt es, einen Schritt vorher anzusetzen und Unsicherheiten zu reduzieren. In diesem Kontext spielen die Qualität der Ausbildung, das Maß an Erfahrung, aber natürlich auch die Praxisbedingungen eine zentrale Rolle.
Was genau ist hier unter „Praxisbedingungen“ zu verstehen?
PETERS: Es kommt sicher mit darauf an, mit welchen Hilfsmitteln die Behandlung durchgeführt wird. So weisen etwa die Autoren der erwähnten Studie darauf hin, dass OP-Mikroskope bei endodontisch tätigen Zahnärzten in Schweden nur äußerst selten zum Einsatz kommen. Der Verzicht auf diese optische Unterstützung bringt allerdings eine Verschlechterung der Sichtverhältnisse mit sich – und immer, wenn ich etwas nicht genau sehen oder anderweitig wahrnehmen kann, entsteht Unsicherheit. Das gleiche Prinzip gilt für die Verwendung eines Apex-Locators. Arbeite ich ohne ihn, frage ich mich womöglich: „Fehlt mir noch ein ¾-Millimeter bis zum Apex oder bin ich schon darüber hinaus?“ Mit einem Apex-Locator lassen sich solche Zweifel leichter ausräumen. Über diese beiden Einzelbeispiele hinaus lässt sich aber ganz grundsätzlich ein höheres Maß an Sicherheit gewinnen, wenn man sich für eine systematische Arbeitsweise entscheidet.
Sollte es sich dabei nicht eigentlich um eine Selbstverständlichkeit handeln?
PETERS: Das wäre schön. In der Realität sieht es allerdings vielmehr so aus, dass eine Vielzahl von Vorgehensweisen nebeneinander existiert und man kaum zwei Behandler findet, die identisch an einen Fall herangehen. Hier sollte man sich gerade mit Blick auf Vergleichbarkeit und Vorhersagbarkeit eher in Richtung einer einheitlichen Arbeitsweise bewegen. Diesen Grundsatz habe ich auch in meine Entwicklungsarbeit am Behandlungskonzept TruNatomy von Dentsply Sirona einfließen lassen. Und aus dieser Überlegung heraus handelt es sich hierbei nicht nur um ein Konzept, das sich der Minimalinvasivität oder besser gesagt der Dentinschonung verschrieben hat, sondern auch um ein Konzept, welches beinahe automatisch eine systematische Arbeitsweise generiert. Denn neben Gleitpfad- und Aufbereitungsfeilen umfasst TruNatomy auch passende Guttapercha, Papierspitzen sowie eine Spülkanüle. Aus diesen aufeinander abgestimmten Komponenten ergibt sich ein „Fahrplan“ für endodontische Behandlungen, mit dessen Hilfe man mit höherer Vorhersagbarkeit zum gewünschten Ergebnis gelangt.
Sie haben TruNatomy gemeinsam mit Dr. George Bruder und der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Dentsply Sirona entwickelt. Inwiefern kann die in diesem Produkt gebündelte Endo-Expertise Zahnärzten dabei helfen, mit mehr Sicherheit an die nächste Wurzelbehandlung heranzugehen?
PETERS: Ich würde diesen Gedanken gar nicht ausschließlich auf TruNatomy beschränken wollen. Klar, ein Produkt muss natürlich für sein Einsatzgebiet adäquat sein, das steht außer Frage. Aber meiner Einschätzung nach kommt speziell von Herstellerseite noch eine ganze Menge mehr dazu. Schließlich möchte ich in meiner Praxis Instrumente zum Einsatz bringen, die aus wissenschaftlicher Sicht abgesichert sind. Ich möchte außerdem angemessen darüber informiert sein, wie ich das Produkt am besten einsetze und welche Chancen es mir eröffnet. In diesem Zusammenhang spielen zum Beispiel Fortbildungsangebote und selbstverständlich ein entsprechender Kundenservice für die Fragen des Alltags eine wichtige Rolle. Wenn all diese Faktoren zusammenkommen, kann ein solches Gesamtpaket durchaus zu mehr Sicherheit in der Praxis beitragen.
[1] Dahlström L, Lindwall O, Rystedt H, Reit C. “Working in the dark”: Swedish general dental practitioners on the complexity of root canal treatment. International Endodontic Journal, 50, 636–645, 2017.
PROF. DR. OVE PETERS
Wissenschaftlicher Direktor der Oral Health Alliance und Professor für Endodontie an der Universität von Queensland, Brisbane, Australien
Foto: privat