Zahnmobil Hamburg: Die rollende Praxis



Wenn sich Dr. Mathias Schmidt mittwochs morgens auf den Weg zur Arbeit macht, führt ihn sein Weg nicht zwangsläufig in seine Zahnarztpraxis nach Hamburg-Rahlstedt. Einmal im Monat steuert der Zahnarzt den Hamburger Hauptbahnhof an. Das Ziel: die Bahnhofsmission. Hier macht zwischen Viertel nach neun und zwölf Uhr vormittags das Zahnmobil des Hamburger Caritasverbands Station, für das Schmidt seit 2009 als einer von insgesamt 24 ehrenamtlichen Zahnmedizinern tätig ist. Neben pensionierten Kollegen engagieren sich auch niedergelassene Zahnärzte wie Schmidt für das Mobil, die für ihre Behandlungsfahrten mindestens einmal im Vierteljahr die eigene Praxis für einige Stunden schließen. Außerdem mit an Bord: eine von fünf zahnmedizinischen Fachangestellten und ein Fahrer.

Das ehrgeizige Projekt startete vor sechs Jahren, erinnert sich Schmidt. Damals war es der Hamburger Caritas gelungen, die finanziellen Mittel für die immerhin 180.000 Euro teure mobile Praxis zu organisieren. Als Sponsoren sprangen die ARD Fernsehlotterie und das Hamburger Spendenparlament ein. Für den Bau des Fahrzeugs konnte die Caritas das Unternehmen Hospimobil gewinnen, die Ausstattung mit technischem Equipment und Material übernahmen Colgate-Palmolive GmbH als Hauptsponsor sowie Henry Schein und DMG. Hamburg ist damit neben Hannover bundesweit die einzige Stadt, die über eine fahrbare Zahnarztpraxis verfügt.

Als Idee stand das Motto der Caritas Pate: „Not sehen und handeln“. Geplant war ein niedrigschwelliges zahnmedizinisches Angebot ohne großen bürokratischen Aufwand, ohne Kostenabrechnung oder die detaillierte Abfrage persönlicher Daten. „Der Gedanke der Anonymität stand für uns im Vordergrund, um Obdachlose und Bedürftige nicht abzuschrecken“, erklärt Timo Spiewak vom Caritasverband für Hamburg e. V. Daher legt das Zahnmobil-Team für jeden Patienten lediglich eine Karteikarte für die interne Behandlungsdokumentation an, nach sensiblen Daten wie dem Aufenthaltsstatus wird nicht gefragt. „Das schafft Vertrauen“, betont Spiewak. Das Zahnmobil konnte sich so innerhalb kürzester Zeit als Anlaufstelle etablieren, bei der Bedürftige neben einer zahnmedizinischen Versorgung und Gratis-Mundpflegeartikeln auch Tipps zu weiterführenden sozialen Hilfsangeboten erhalten.

Immer mittwochs und donnerstags fährt das Zahnmobil je zwei feste Stationen in Hamburg an: Am Mittwoch die Bahnhofsmission und das Diakoniezentrum für Wohnungslose bzw. die Übernachtungsstätte „Pik As“, am Donnerstag die Essensausgabestelle „Alimaus“ und die Tagesaufenthaltsstätte „Herz As“. Die Nachfrage nach der kostenfreien Behandlung ist groß: Im letzten Jahr suchten insgesamt 663 Patienten das Zahnmobil auf. „Seit Kurzem haben wir unseren Tourenplan daher um einen weiteren Behandlungstag erweitert“, berichtet Spiewak. „Zweimal im Monat hält das Zahnmobil jetzt auch vor dem Harburger Rathaus.“

Neben der zahnmedizinischen Versorgung Bedürftiger setzt die Caritas das Fahrzeug zweimal wöchentlich auch zur Aufklärungsarbeit an Kindergärten, Schulen und Mittagstischen in sozialen Brennpunkten ein. Dort lernen Kinder und Jugend‧liche unter der Anleitung einer Helferin die richtige Zahnpflege am Gipsmodell, dürfen mit dem Intraoralscanner den eigenen Mund erkunden und probeweise auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen. „Auf diese Weise wollen wir Berührungsängste möglichst frühzeitig abbauen und die Kinder für die Bedeutung der Mundhygiene sensibilisieren“, erklärt Spiewak.

Bei vielen der älteren Patienten ist es dafür häufig schon zu spät. Dr. Schmidt und sein Behandlungsteam sehen während der mobilen Sprechstunde für Obdachlose und Bedürftige vorwiegend akute Fälle. „Zu rund 90 Prozent versorgen wir Patienten mit akuten Schmerzen, extrahieren Zähne oder setzen Füllungen“, berichtet der Zahnarzt. Das liege auch an dem veränderten Körperbewusstsein der Klientel: „Hinter den existenziellen Sorgen der Obdachlosen um Nahrung oder eine warme Übernachtungsmöglichkeit im Winter treten Aspekte wie Mundhygiene oder Probleme mit den Zähnen zurück – so lange, bis der Schmerz unerträglich wird. Dann kommen die Patienten zur Notfallbehandlung zu uns ins Zahnmobil.“

Pro Einsatz behandelt Schmidt im Durchschnitt fünf bis sechs Patienten. Die Vergabe der begehrten Behandlungen erfolgt über Nummernkärtchen – wer zuerst kommt, erhält einen der 10- bis 15-minütigen Termine. Für die Mehrheit von Schmidts Patienten ist dies die einzige Möglichkeit einer zahnmedizinischen Versorgung, denn sie sind nicht krankenversichert. Das hänge auch mit dem hohen Anteil von Migranten unter den Bedürftigen zusammen, erklärt der Zahnarzt. Fast 80 Prozent seiner Patienten kommen aus osteuropäischen Ländern wie Bulgarien, Rumänien oder Polen. Da gestalte sich die Verständigung manchmal problematisch, berichtet Schmidt. „In den meisten Fällen findet sich aber unter den Verwandten und Bekannten ein Dolmetscher – oder wir arrangieren uns mit Gestik und Mimik. Wo es weh tut, zeigen uns die Patienten schließlich universell verständlich.“

Für die Akutversorgung der Bedürftigen enthält das Zahnmobil alles, was auch in einer niedergelassenen Praxis nicht fehlen darf: Neben einer Behandlungseinheit sind Bohrer, Hand- und Winkelstücke, eine Sauganlage, Oralscanner und diverse Verbrauchsmaterialien mit an Bord. Für den nötigen Luftdruck im Mobil sorgt ein Kompressor, ein eingebauter Tank garantiert die Versorgung mit Frischwasser. Auch der Hygienestandard ist gewährleistet: Vor Beginn der Behandlung spült jeder Patient eine Minute mit einer desinfizierenden Mundspüllösung. Die verwendeten Geräte werden zudem im Anschluss in einer Caritas-Station hygienisch aufbereitet. Einzig auf eine Röntgenanlage muss das rollende Praxisteam aus Gründen des Strahlenschutzes verzichten. Für Schmidt wird das gerade bei der Extraktion von mehreren Zähnen oder bei Arbeiten im hinteren Kieferbereich zur Herausforderung. „In solchen Fällen müssen wir entweder improvisieren oder an zwei kooperierende niedergelassene Kollegen bzw. eine Zahnklinik überweisen“, erklärt der Zahnarzt.

Die Beschränkung auf einfache Hilfsmittel macht für Schmidt jedoch gerade den Reiz seiner Tätigkeit aus. „Im Unterschied zu den Aufgaben in meiner Praxis, wo es oft um Ästhetik und die Optimierung des Zahnstatus geht, ist das hier absolute Basisarbeit. Aber man stellt immer wieder fest: Es geht auch so, ohne Hightech.“ Ursprünglich wollte sich der Zahnmediziner in einem Hilfsprojekt in Vietnam engagieren – bis er 2009 einen Aufruf im Hamburger Zahnärzteblatt sah. „Da wurde mir klar, dass wir auch vor der eigenen Haustür genug Bedarf an unbürokratischen Hilfsangeboten haben“, erinnert sich Schmidt. Seitdem ist er fester Bestandteil des Zahnmobil-Teams.

Mit dabei ist auch Christine Himberger als eine von fünf ZFAs im Team der Caritas, die teils auf 400-Euro-Basis, teils fest beschäftigt sind. Wie Schmidt schätzt auch sie die niedrigen Hierarchien zwischen Ärzten und Helferinnen und die Verbindung ihres Berufs mit einem karitativen Nutzen. Nicht zuletzt freut sich die ZFA auch über die Anerkennung ihrer Leistung von Seiten der Patienten: „Viele Patienten bedanken sich nach der Behandlung überschwänglich bei uns. Manche schenken uns sogar Schokolade oder andere Kleinigkeiten, obwohl sie doch eigentlich gar kein Geld haben.“

Nach zwei Zahnextraktionen, Schleifarbeiten und einer Kunststofffüllung ist für heute Dienstende für Schmidt. Auf ihn wartet ein früher Termin in seiner Praxis in Hamburg-Rahlstedt. Sein fahrbares Behandlungszimmer tauscht der Zahnarzt nur ungern gegen die niedergelassene Praxis. Er genießt seinen monatlichen Ausflug „zurück zu den Basics der Zahnmedizin“. Das große Interesse seiner Kollegen an einem sozialen Engagement beim Zahnmobil der Caritas kann Schmidt daher gut nachvollziehen. Er freut sich darüber, einen der wenigen freien Plätze ergattert zu haben, und ist sich sicher: „Wer einmal als Helfer beim Zahnmobil dabei ist, bleibt dabei.“

Weitere Informationen unter: www.zahnmobil.de