Klinische Studien unter Praxisbedingungen
Es ist deutlich einfacher, universitäre Einrichtungen, akademische Institute und Studienzentren mit der Durchführung klinischer Studien zu beauftragen, als sie unter Praxisbedingungen durchzuführen. Innovative Methoden und neue Materialien werden an einem eigens dafür rekrutierten Probandengut angewendet, statistisch ausgewertet und bewährten, evidenten Methoden gegenübergestellt. Die Bedingungen und Voraussetzungen in diesem Kontext sind meist ideal. So stehen zur Studiendurchführung neben geschultem Personal – fokussiert und trainiert im Umgang mit den praktizierten Methoden und Materialien – ausreichend Zeit und technisches Equipment zur Verfügung.
Zu Recht wendet der Praktiker ein, dass eine Projektion der so zustande gekommenen Ergebnisse auf die tägliche Praxis nur eingeschränkt möglich ist. Viele Studienergebnisse sind wegen dieser Voraussetzung mit dieser Einschränkung (Bias) belegt.
Studie im Feld
Vor dem Hintergrund einer praxisnahen und -relevanten Forschung wurde 2009 die klinische Anwendungsbeobachtung im Feld der Poliklink für zahnärztliche Prothetik, Alterszahnheilkunde und medizinische Werkstoffkunde der Universitätsmedizin Greifswald gestartet und in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sowie den Universitäten Marburg und München durchgeführt [4].
Nach ethischer Prüfung des Studienansatzes durch die Ethikkommission der medizinischen Fakultät der Universität Greifswald wurden in dem zweistufigen Rekrutierungsprozess randomisiert deutschlandweit 3194 Kolleginnen und Kollegen in ihrer niedergelassenen Praxis angeschrieben und eingeladen, im randomisierten, doppelblinden, prospektiven Studiendesign im Feld die Bewährung des glasionomerbasierten Füllungswerkstoffs (Equia fil) gegenüber einem hochviskösen Glasionomerzement (GC Fuji IX Extra) in der täglichen Praxis zu prüfen. Nach initialer Zustimmung zur Studienteilnahme wurden die Kolleginnen und Kollegen zu einem Informationsabend vor Ort eingeladen, um sie in der Studiendurchführung (Good Clinical Practice, ICH-GCP) und in der Verarbeitung der beiden Studienmaterialien (Good Manufacturing Practice, ICH-GMP) zu unterweisen. Erst nach Einschluss aller teilnehmenden Praxen wurde die Studie im Register für klinische Studien registriert (DRKS-ID: DRKS00004220).
Füllungswerkstoffe im Vergleich
Der Studienplan sah vor, dass pro Praxis mindestens acht Füllungen (je vier Füllungen pro Untersuchungsarm) bei randomisiert ausgewählten Patienten gelegt werden, bei denen a) die Indika‧tion zur Füllungstherapie im Seitenzahn bestand und die b) der Studienteilnahme schriftlich zugestimmt haben (Deklaration von Helsinki, ICH-GCP). Die Füllungsgröße war auf ein- und zweiflächige Seitenzahnfüllungen beschränkt, deren Größe durch die Herstellerempfehlungen beschränkt war: Die Isthmusbreite der Füllung sollte der Hälfte des Interkuspidalabstands entsprechen, bei zweiflächigen Füllungen zusätzlich die approximale Kastengröße nicht über den Interkuspidalabstand extendiert werden.
Nach beendeter Kavitätenpräparation wurde die einzelne Kavität mit einem knetbaren Silikon abgeformt, der Zahn vorbereitet, die Oberfläche unter Verwendung eines Kavitätenkonditionierers (Cavity Conditioner, GC Japan) konditioniert und das Füllungsmaterial appliziert.
Nach Füllungskonturierung wurde die Oberfläche der Füllung abgeformt, die Daten wurden pseudonymisiert der Studienzentrale Greifswald gemeldet, der Proband wurde in die Probandenliste aufgenommen und die Studienunterlagen wurden an die Studienzentrale versandt.
Das sich nun anschließende Follow-up schließt eine jährliche Untersuchung und Evaluation der Füllung durch externe zahnärztliche Kollegen der beiden Universitäten Marburg und Greifswald ein, die sich zur Nachuntersuchung in der Praxis vor Ort einfanden. In den Nachuntersuchungen wurden die Füllungen anhand klinisch-funktioneller Parameter, wie sie bereits seit 2010 für direkte und indirekte Füllungen verwendet werden [3], untersucht. Zur Anwendung kamen die Kriterien: Fraktur und Retention, marginale Adaptation, approximale, anatomische Form, Patienteneinschätzung, Sensibilität und Vitalität des Zahns sowie Material‧interaktion. Eine Abformung der Füllungsoberfläche und ein okklusales Foto schlossen die Follow-up-Untersuchung ab.
Studienteilnehmer
Die Bereitschaft zur Studienteilnahme zeigten 10,1 Prozent der angeschriebenen Kolleginnen und Kollegen (n=237), von 1350 der Praxen (37,4 Prozent) wurde keine Rückmeldung erhalten und 53,6 Prozent (n=1650) lehnten eine Studienteilnahme aufgrund Zeitmangels, absehbaren Eintritts in den Ruhestand sowie Ablehnung des Studienmaterials ab. Letztlich nahmen 144 Praxen (60,75 Prozent der zustimmenden Kollegen, 7,1 Prozent der angeschriebenen niedergelassenen Praxen) an der Studieneinweisung und der klinischen „Studie im Feld“ teil.
Kritisch: Off-label Use
Die derzeit ausgewerteten Daten zeigen für beide Materialien eine gute klinische Bewährung, ein signifikanter Unterschied konnte nicht festgestellt werden. Jedoch zeigte die Auswertung, dass die Kavitätengröße in 62 Prozent der Fälle gegenüber den Vorgaben (Einschlusskriterien) überextendiert wurde, was dazu führte, dass das Füllungsmaterial außerhalb der herstellerbasierten Indikationsbreite im sogenannten „Off-Label“-Bereich verwendet wurde. Wie bei allen Füllungsmaterialien ist das Risiko des Füllungsverlusts bzw. der Füllungserneuerung bei diesen Füllungen erhöht. Bereits bei der Kavitätenpräparation sollte deshalb immer überprüft werden, ob die Verwendung des jeweiligen Füllungsmaterials aufgrund der nötigen Kavitätengestaltung (noch) indiziert ist oder ob – in Absprache mit dem Patienten – ein anderes Material Anwendung finden muss.
Fazit
Die „Studie im Feld“ vermag das klassische Studiendesign nicht zu ersetzen, da sie wesentlich umfangreicher, aufwendiger und vom logistischen Aufwand deutlich intensiver ist als jene Stu‧dien, bei denen die Studienzentrale direkten Zugriff auf ein für die Fragestellung geeignetes Patientenkollektiv hat. Wie bei allen klinischen Studien lässt sich auch hier – trotz ausgefeilten Designs – das „Gesetz von Lasagna“ nicht umgehen [5]. Weniger als zehn Prozent der angeschriebenen Kolleginnen und Kollegen nutzten die Teilnahmechance an wissenschaftlichen Fragestellungen mit ihrem Praxisteam. Zur Verwunderung der Partnerpraxen ist der anfänglich befürchtete, zeitlich-logistische Aufwand zur Studiendurchführung (Protokoll der Füllungslegung und der eingeschlossenen Einheiten, Terminierung der Kontrolluntersuchung), der den einen oder anderen Kollegen hinderte, seine Studienteilnahme zu kommunizieren, deutlich reduziert.
Die studienspezifischen Anforderungen konnten in der Durchführung auf ein Minimum reduziert bzw. an die Zahnarzthelferin delegiert werden. Bereits nach der ersten klinischen Follow-up-Untersuchung konnte der Nachuntersuchungaufwand je Follow-up-Sitzung drastisch reduziert werden, da er nicht das Maß der täglichen Anforderungen überschritt. Die aufwendigere, studienrelevante Evaluation und die Protokollierung wurden von Studienärzten aufgenommen, um den Praxisalltag so wenig wie möglich zu störten.
Aufgrund des modifiziertes Studiendesign der „Studie im Feld“ lassen sich Datengenerierung und -erfassung auf ein wesentlich breiteres Fundament stellen, wenn die eingeschlossenen Partnerpraxen mit geringem Aufwand eine minimale Anzahl an Einheiten legen, deren Gesamtsumme hingegen einen großen Beobachtungspool ergibt. Sollen zukünftig wissenschaftliche Fragestellungen nach diesem Design beantwortet werden, so ist es eine vornehmliche universitäre Aufgabe, (angehende) Kolleginnen und Kollegen zu informieren und für diese Art der Studiendurchführung „im Feld“ in Aus- und Fortbildungen zu begeistern. Der uneingeschränkte Vorteil dieser Verfahrensweise besteht darin, dass Studienergebnisse von Praktikern für Praktiker generiert werden können, der Bias durch die teilnehmenden Praktiker selbst reduziert werden kann und die Ergebnisse den Einfluss der realen, praxisnahen Bedingungen reflektieren.
Vorbilder USA, Grossbritannien
Dass auch klinische Forschung in Praxisnetzwerken durchgeführt werden kann und möglich ist, zeigen zum Beispiel die CRA (Clinical Research Associates, USA), eine nordamerikanische Gruppe, sowie Prof. Dr. Trevor Burke, der sich unter der Federführung der Zahnklinik der University of Birmingham in Großbritannien in zwei Praxisnetzwerken PREP („Product Research & Evaluation by Practitioners“ mit 33 Zahnärzten) und BRIDGE („Birmingham Research in General Dental Practice“ mit 18 niedergelassenen Zahnärzten) mit klinischen Auswertungen einer Vielzahl von zahnärztlichen Materialien in praxisbezogenen Studien widmete [1, 2].
OA Dr. Thomas Klinke
Universitätsmedizin Greifswald,
Poliklinik für zä. Prothetik, Alterszahnheilkunde und med. Werkstoffkunde
klinke@uni-greifswald.de
Prof. Dr. Reiner Biffar
Universitätsmedizin Greifswald,
Poliklinik für zä. Prothetik, Alterszahnheilkunde und med. Werkstoffkunde
Prof. Dr. Reinhard Hickel
Klinikum der Universität München (LMU),
Poliklinik für Zahnerhaltung und ParodontologieKlinikum der Universität München (LMU), Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Prof. Dr. Roland Frankenberger
Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Medizinisches Zentrum für ZMK, Abteilung für Zahnerhaltungskunde