medizinische Notwendigkeit bei andersartigen Versorgungen

Gibt es die Zweiklassenmedizin beim Zahnersatz?

Darf der Versicherungsstatus des Patienten über die medizinische Notwendigkeit einer zahnmedizinischen Leistung entscheiden? Eine Urteilsbegründung des Landgerichts Flensburg lässt aufhorchen.


Zweiklassenmedizin Zahnersatz

Spielt der Versicherungsstatus eines Patienten eine Rolle bei dessen Behandlung? © stockpics – stock.adobe.com


Eigentlich sollte der Versichertenstatus eines Patienten im Sinne einer „Zweiklassenmedizin“ für die Behandlung nicht ausschlaggebend sein. Das Landgericht Flensburg (Urt. v. 20.01.2021, Az. 3 O 190/17) hatte sich mit der Vergütungsklage eines Zahnarztes auseinanderzusetzen und führte in seiner Urteilsbegründung u.a. Folgendes aus:

„Grundsätzlich ist die Frage, ob eine medizinisch notwendige Behandlung vorliegt, im Einzelfall – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu beurteilen. Für den Bereich der Zahnersatzversorgung bei gesetzlich Versicherten enthält jedoch das Gesetz eine Vorgabe, welche Leistungen als medizinisch notwendig einzustufen sind. Medizinisch notwendig sind danach grundsätzlich nur die Leistungen, die unter die Regelversorgung fallen.“

Mit dieser Begründung ging das Gericht davon aus, dass es sich bei der andersartigen Versorgung um eine über das Maß einer zahnmedizinisch notwendigen zahnärztlichen Versorgung hinausgehende Leistung i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 GOZ, d.h. eine Verlangensleistung handelt, für die die strengen Formvorschriften des § 2 Abs. 3 GOZ gelten. Bemerkenswert daran ist, dass die Begründung dafür nicht aus dem zahnmedizinischen Bereich stammt, sondern der Versicherungsstatus des Patienten über die Notwendigkeit der Leistung entscheiden soll.

Der Sachverhalt

Eine Abrechnungsgesellschaft klagte gegen eine gesetzlich versicherte Patientin, die die Vergütung für eine zahnärztliche Behandlung in Höhe von knapp 5.600,00 € nicht leisten wollte. Der behandelnde Zahnarzt ging davon aus, dass ihm dieser Betrag zusteht. Nach seinen Ausführungen im Prozess hatte er der Patientin erklärt, dass sowohl die Kosten des Behandlungsplanes nach der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) als auch die Kosten, die auf dem Formblatt des Heil- und Kostenplanes aufgeführt waren (und über den Festzuschuss der Kasse hinausgehen), von ihr selbst zu zahlen seien. Dabei hatte die Patientin ein Dokument „Behandlungsplanung“ Ende des Jahres 2012 erhalten, während die Behandlung im Herbst des Jahres 2013 begann. Im Rahmen der Behandlung im Jahr 2013 wurde der Patientin durch den Zahnarzt ein neuer Heil- und Kostenplan zur Einreichung bei der Krankenkasse überlassen. Die Zahlung der Vergütung lehnte die Patientin jedoch ab. Das Gericht ließ es dabei nicht genügen, dass die Patientin zwar über die Kosten aufgeklärt worden war, es aber – so das Gericht – im Ergebnis an einer Verschriftlichung fehlte. Auf die Erstattung der Behandlungskosten in Höhe von 5.600 € hatte der Zahnarzt damit nach Auffassung des Gerichts keinen Anspruch, da die gesetzlich vorgegebene Schriftform des § 2 Abs. 3 S. 1 GOZ nicht eingehalten worden sei. Aufgrund dieses Formmangels des Heil- und Kostenplans war nach Auffassung des Gerichts die gesamte Honorarvereinbarung zwischen dem Zahnarzt und der Beklagten nichtig. Daher, so das Gericht, konnte der Zahnarzt auch nicht denjenigen Betrag fordern, der bei Durchführung einer Regelversorgung abrechenbar gewesen wäre.

Ob das Urteil im Ergebnis richtig ist, vermag der Außenstehende ohne genaue Kenntnis des Sachverhaltes nicht zu beurteilen. Immerhin sind auch bei Vereinbarung der Durchführung einer andersartigen Versorgung Formerfordernisse einzuhalten. Die Begründung ist aber nach hier vertretener Auffassung unzutreffend, werden doch Schlüsse aus dem Versicherungsstatus gezogen, die in dieser Form nicht haltbar sind. Daran ändert auch nichts, dass das Gericht zwischen einer indizierten Behandlung und der medizinisch notwendigen Behandlung differenziert.

Wann ist eine Behandlung notwendig?

Der Begriff der medizinischen Notwendigkeit findet sich in verschiedenen gesetzlichen Regelungen, Verordnungen und Versicherungsbedingungen, ist dort aber nicht definiert. Der Bundesgerichtshof hat sich mehrfach der Auslegung dieser Begrifflichkeit angenommen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist eine Heilbehandlungsmaßnahme medizinisch notwendig, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar war, sie als medizinisch notwendig anzusehen. Das ist, so der BGH weiter, im Allgemeinen dann der Fall, wenn eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen oder zu lindern (BGH, Urteil vom 12. 3. 2003 – IV ZR 278/01). Das höchste deutsche Zivilgericht stellt also konsequenterweise auf die (zahn)medizinische Eignung der Maßnahme ab, die Krankheit zu heilen oder zu lindern. Welche Behandlungsmethode geeignet ist, eine Krankheit zu heilen oder zu lindern, dürfte wohl unstreitig nicht vom Versicherungsstatus des Patienten abhängen. Der Versicherungsstatus entscheidet also nicht über die Frage, ob das Maß des medizinisch Notwendigen überschritten ist, sondern ob der Patient einen Leistungsanspruch gegen seine Krankenkasse, seine Private (Zusatz)Versicherung oder auf Beihilfe hat.

Die Definition der Notwendigkeit über den Versicherungsstatus verbietet sich. Die Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung definiert daher nicht die Notwendigkeit einer Leistung, sondern den Anspruch des Versicherten, also das, was die Versichertengemeinschaft zu tragen bereit ist. Deswegen steht die Regelung (§ 55 SGB V) auch unter der Überschrift „Leistungsanspruch“. § 55 Abs. 1 SGB V lautet:
„Versicherte haben nach den Vorgaben in den Sätzen 2 bis 7 Anspruch auf befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz…“

Der Begriff „medizinisch notwendige Versorgung“ wird in dieser Regelung demnach vorausgesetzt und nicht definiert.
Je nach System ist der Leistungsanspruch im Übrigen unterschiedlich definiert, wobei alle Systeme (GKV, PKV und Beihilfe) gemein haben, dass in aller Regel das Maß des Notwendigen nicht überschritten sein darf. Der Anspruch gesetzlich versicherter Patienten ist beschränkt auf Behandlungsleistungen die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Zudem sind für Zahnersatz Regelversorgungen vorgegeben. Suprakonstruktionen auf Implantaten sind daher als andersartige Versorgung zwar ggf. medizinisch notwendig, aber nicht Bestandteil des Sachleistungsanspruchs in der GKV. Das macht sie aber nicht zur Verlangensleistung gem. § 1 Abs. 2 S. 2 GOZ.

Der Anspruch des beihilfeberechtigten Patienten setzt neben der medizinischen Notwendigkeit voraus, dass die Aufwendungen wirtschaftlich angemessen sind. In der Anlage gem. § 4 Abs. 6 S. 2 der Beihilfeverordnung des Bundes werden in diesem Sinne Untersuchungen und Behandlungen definiert, die als nicht notwendig gelten. Weil die Definition der Notwendigkeit dem Bund zu weit geht, wird die fehlende Notwendigkeit bei gewissen Leistungen für den Bereich der Beihilfe fingiert („Die Leistungen sind zwar notwendig, aber sie gelten als nicht notwendig“).

In der privaten Krankenversicherung umfasst der Versicherungsschutz gem. § 192 Abs. 21 VVG „im vereinbarten Umfang die Aufwendungen für medizinisch notwendige Heilbehandlung“, bis zur Grenze des auffälligen Missverhältnisses (§ 192 Abs. 2 VVG). Auch hier wird der Begriff der Notwendigkeit vorausgesetzt und durch den Vertrag und die Versicherungsbedingungen nur der Leistungsanspruch konkretisiert („die Behandlung ist zwar notwendig, aber wir bezahlen nur das, was vereinbart ist“).

Folgerungen zur „Zweiklassenmedizin“

Es ist zu hoffen, dass das Urteil keine Schule macht. Richtigerweise muss ein Gericht, unterstützt durch einen zahnmedizinischen Gutachter, überprüfen, ob eine Leistung zahnmedizinisch notwendig ist. Der Maßstab ist für Privatpatienten, gesetzlich Versicherte, Beihilfepatienten und Selbstzahler identisch. Nur wenn geklärt ist, dass es an der zahnmedizinischen Notwendigkeit fehlt, greifen die Formerfordernisse des § 2 Abs. 3 GOZ. Die Frage, ob eine Leistung ausreichend ist, spielt dabei zunächst keine Rolle. Das Gericht geht also fehl, wenn es ausführt, dass in Einzelfällen in Betracht kommen mag, dass die Regelversorgung nicht alle medizinisch notwendigen Leistungen abdeckt. Und dann feststellt, dass keine Umstände vorgetragen wurden, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass die Regelversorgung beim Beklagten nicht ausgereicht hätte. Auch in dieser Bemerkung wird deutlich, dass Begriffe, die den Leistungsanspruch des Versicherten bestimmen, zur Beurteilung der Notwendigkeit herangezogen werden.

Jede andere Betrachtung führt zu unauflösbaren Widersprüchen. Es würde dazu führen, dass bspw. für Suprakonstruktionen auf Implantaten bei einem GKV-Patienten § 2 Abs. 3 GOZ einzuhalten und in der Abrechnung die Leistungen auch als Verlangensleistungen zu kennzeichnen wären (§ 10 Abs. 3 S. 6 GOZ), während bei Privatpatienten die wirtschaftliche Aufklärung ausreicht und keine Kennzeichnung zu erfolgen hat. Es steht außer Frage, dass private Zusatzversicherungen sich schwer tun werden mit der Kostenübernahme bei Leistungen, die in der Abrechnung als Verlangensleistungen, d.h. als Leistungen gekennzeichnet sind, bei denen die medizinische Notwendigkeit fehlt. Solche Leistungen sind ja gerade vom Versicherungsschutz ausgenommen.

Unklar wäre auch, wie mit dem GKV-Patienten zu verfahren ist, der die Kostenerstattung gem. § 13 SGB V gewählt hat. Ist bei diesem die andersartige Versorgung notwendig oder nicht? Übertragen auf den Beihilfeberechtigten stellt sich die Frage, ob Leistungen, die von der Beihilfe ausgeschlossen sind, ebenfalls als Verlangensleistungen zu qualifizieren sind.
Im Ergebnis verbietet sich daher die Definition der medizinischen Notwendigkeit über den Versichertenstatus, zumal durch eine solche Sichtweise die teilweise schon bestehende „Zweiklassenmedizin“ zementiert wird.

Eines ist aber klar: Spätestens mit der Einführung einer Bürgerversicherung würde sich diese Problematik natürlich nicht mehr stellen. Dann wären andersartige Versorgungen für alle Patienten zahnmedizinische Leistungen, die über das Maß einer zahnmedizinisch notwendigen zahnärztlichen Versorgung hinausgehen.


Der Experte

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RA Jens-Peter Jahn
Fachanwalt für Medizinrecht in der Kölner Kanzlei michels.pmks Rechtsanwälte mit einem Tätigkeitsschwerpunkt im Zahnarztrecht.
info@michelspmks.de