Raumgestaltung für Zahnarztpraxen: Beispiel eines barrierefreien Wartebereichs

Gutes Ankommen für alle

Arztpraxen sind „halböffentliche“ Bereiche, die von sehr unterschiedlichen Menschen besucht werden. Auf ihre verschiedenen Bedürfnisse einzugehen, ermöglicht Wohlbefinden in Stress­situationen und entlastet auch das Personal. Eine gute Raumgestaltung kann nicht zuletzt eine Heilung unterstützen. Daher stellte Dr. Inga Ganzer, Geschäftsführerin bei raumdeuter in Berlin und Lehrbeauftragte an der Berlin International University of Applied Arts, ihren Master- studierenden die Aufgabe, den Wartebereich einer fiktiven Zahnarztpraxis zu gestalten. Den gelungenen Entwurf des Masterstudenten Ratik Goyal aus Berlin stellt sie hier vor.



Wer kommt in eine Zahnarztpraxis und was treibt diese Menschen um? Aus welchem Alltagsumfeld treten sie in den Empfangsbereich ein und was wünschen sie sich, um sich wohl und sicher zu fühlen? Welche Bedürfnisse haben sie, wenn sie zu einem Zahnarzttermin kommen? Welche Ängste oder Umstände beeinflussen den Termin und das Warten davor? Diese Fragen sollten Masterstudierende an der Berlin International University of Applied Arts in der einwöchigen Kurzaufgabe, an deren Ende ein barrierefreier, praktikabler und freundlicher Empfang mit Wartebereich visualisiert werden sollte, beantworten. Dafür nutzten sie die Methoden des Design Thinking und im Sinne des „Design for all“.

Design Thinking
Das sogenannte Design Thinking ist eine Methodik, die aus der Sicht der Nutzenden denkt, wenn Produkte, Räume und Prozesse entwickelt werden. Nutzende sind hier Patienten und auch Mitarbeitende in der Praxis.
Die Studierenden diskutierten also zunächst mit diesen zwei Perspektiven beispielsweise Aspekte wie Raum- und Möbeldesign (freundlich, modern, veraltet, großzügig), Platz für Gepäck und Garderobe, Beleuchtung und Vertraulichkeit. Es wurde auch darüber gesprochen, wie gut man sich zurechtfindet (Anlaufpunkt/Wegeleitung), ob es genug Platz für das Ausfüllen von Formularen gibt, ob beeinträchtigte Menschen Zugang haben und ob das Raumangebot in der Wartezone proportional zu den Behandlungsräumen passt.
In dem umfangreichen Werkzeugkasten des Design Thinking findet man unter anderem die Idee der Personas, also beispielhaft ausgedachte Menschen aus der zukünftigen Nutzergruppe. Diese fiktiven Personen erhalten einen Namen, ein Alter; ihr Hintergrund und ihre Interessen werden schriftlich festgehalten und auch ein Beispielfoto gefunden. Dadurch fällt es leichter, konkrete Lösungen für die tatsächlichen Patientenbedürfnisse zu entwickeln. So entstanden in diesem Prozess ganz unterschiedliche, fiktive Patienten.

Aus der Patientenperspektive
So lernten wir „Meena“ kennen, eine lebendige, 65-jährige indischstämmige Sängerin, die bei ihren Besuchen besonders kommunikativ, aber auch zerstreut ist. Sie nutzt eine Gehhilfe und benötigt genug Platz, klare Informationen zu Anlaufpunkten und freut sich über einen Schluck Wasser und eine Gehstockhalterung am Empfang. Oder „Adrian“, 36, Chef einer Tech-Firma und moderner Vater, der mit seiner 4-jährigen Tochter zum Termin kommt. Bei ihm muss alles reibungslos laufen. Im besten Fall kann der Termin am Handy gebucht werden, die Tochter beschäftigt sich in der Spielecke, während er beim Warten noch den Laptop aufklappt.
Weiterhin sind da junge Designstudentinnen, die es besonders schick mögen, Violinen, die einen Aufbewahrungsplatz brauchen, Schüler mit Zahnspange, die noch schnell Hausaufgaben erledigen, sowie Personen im Rollstuhl.

Aus der Mitarbeiterperspektive
Im Fokus standen ebenso die Angestellten der Praxis. Auch sie sind täglich Herausforderungen ausgesetzt und können durch bestimmte Raumelemente und die passende Anordnung entlastet werden.
Zahnarzthelferin „Emma“ (43 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder) zum Beispiel ist die engagierte und empathische Frau am Empfang, die oft mit geschwollenen und schmerzenden Beinen kämpft und sich gern mit beruhigender Musik von stressigen Situationen erholt. Sie wünscht sich einen großen, gut organisierten Tresen mit Beinfreiheit, einen bequemen Stuhl und einen sicheren Rückzugsort.
Als begleitende Lehrkraft und praktizierende Planerin in der Innenarchitektur stellte ich zu Beginn außerdem Projekte meines Büros vor. Hier erfuhren die Studierenden, welchen Prozess Planende und Auftraggebende gemeinsam durchlaufen. In einigen Arztpraxen nahmen wir minutiös Maße von Werkzeugen, Geräten und Aktenstauraum auf, um in der neuen Planung – z. B. am Tresen – komfortable Verhältnisse zu schaffen und allen Elementen einen angemessenen Platz zuzuordnen. Sichere Rückzugsorte für Personal waren oft ein Thema. Interessant ist auch das Phänomen, dass am Ende des Prozesses manchmal doch A4-Zettel mit Klebeband am Tresenmöbel befestigt werden, weil der stetige Informationsbedarf im Warteraum vorher unterschätzt oder nicht klar beschrieben wurde.

Beispiel Empfangsbereich
Einen besonders detailliert ausgearbeiteten Entwurf erarbeitete der Masterstudent Ratik Goyal aus Berlin: Das Zentrum seines Empfangsbereichs bildet ein großzügiger Tresen, der Platz für bis zu drei Angestellte bietet (Abb. 1). Die Personen am Empfang können sich in alle Richtungen entweder den Ankommenden widmen, Fragen der Wartenden beantworten, den hinteren Wartebereich im Blick behalten und auf den großflächigen Schreibtischen die Patientenakten bearbeiten. Für einen echten Rückzug, z. B. für die Buchhaltung und konzentriertes Arbeiten, wäre eventuell ein kleines, zusätzliches Backoffice ratsam.
Es gibt hohe und niedrige Tresenflächen (Abb. 2) sowie unterfahrbare Bereiche, so dass auch Menschen im Rollstuhl oder Kinder über den Tresen schauen, ggf. Formulare ausfüllen, können. Der Tresen ist in sich abgeschlossen – eine Klapptür zum hinteren Wartebereich würde ggf. noch stärker vor zu neugierigen Personen schützen.
Der Tresen ist von allen Seiten als Anlaufpunkt gut erkennbar. Der mächtige Baldachin in Holzoptik definiert optisch den Bereich und bietet gleichzeitig Platz für Installationen, eine helle Beleuchtung und Lüftung. Es wäre denkbar, durch den Einbau eines Podests sitzende Angestellte und Patienten buchstäblich auf Augenhöhe zu bringen; für Personal im Rollstuhl müsste dann allerdings wiederum eine kleine Rampe mitgedacht werden.


Beispiel Wartebereich
Der Wartebereich ist absichtlich in mehrere, funktionale Zonen aufgeteilt: Direkt am vorderen Tresen gibt es Sitzplätze, die für das kurze Warten (z. B. auf ein Rezept), aber auch für weniger mobile Personen geeignet sind, die beim Aufstehen Armlehnen hilfreich finden. Es gibt hier, wie auch im hinteren Areal, einen freien Platz für das Warten im Rollstuhl.
Den Rückzugsbereich für längeres Warten erreicht man durch den Rundbogen. Hier gibt es bequeme Sofas sowie Nischen für unkonventionelles Ausstrecken. Ein kleiner Bereich ist außerdem durch Pflanzen vor Einblicken geschützt. Hier wäre es denkbar, soweit nötig, ein Baby zu stillen oder sich mit Kindern zurückzuziehen. In Regalen und Schubkästen ist Lesestoff und Spielzeug verstaut. Einige höhere Anstelltischchen können noch ergänzt werden, um Laptop-Arbeit oder Hausaufgaben zu ermöglichen. Insgesamt findet jeder Patient – trotz unterschiedlicher Bedürfnisse – einen für sich passenden Platz.
Intuitiv werden die Patienten durch eine Grafik am Boden geleitet. Wichtige Wege, Kreuzungs- und Anlaufpunkte sind markiert. Sehbeeinträchtigen Personen hilft der starke Kontrast besonders, der auch in der Wandbeschriftung beachtet wurde.
Praktische Details wie Garderobe, Abstellplatz für Sperriges, eine Handtaschenablage sowie Regale für Informationsmaterialien ergänzen den Entwurf (Abb. 3). Das Licht ist hell, gleichmäßig und blendfrei in den Hauptbereichen und unterstützt die Privatheit mit punktuellen Spots in den Nischen.
Für die kurze Zeit einer einzigen Woche ist hier eine ästhetisch äußerst ansprechende und schon sehr weit durchdachte Lösung entstanden, die viele Bedürfnisse anspricht. Biophile ­Anklänge (helles Holz, Pflanzen) tragen wissenschaftlich belegt zum Wohlbe­finden bei.


Umsetzung für die eigene Praxis
Was bedeutet dies alles nun für den Fall, dass eine Zahnarztpraxis neu entsteht, erworben oder renoviert werden soll? Wichtig ist, dass vor Beginn der Bauphase ausreichend Zeit eingeplant wird, um eine gründliche Analyse vorzunehmen und die Bedürfnisse aus Patienten- und Mitarbeiterperspektive zu formulieren.
Die täglichen Praxisabläufe, die Zielgruppen und das gewünschte Außenbild müssen berücksichtigt werden. Eine vorgelagerte Bedarfsanalyse mittels Design Thinking-Methoden kann für komplexe Projekte mit einer besonderen Ausrichtung spannend sein – etwa, wenn es um eine spezielle Kinderpraxis oder eine Praxis mit dem Fokus auf Angstpatienten geht. Wichtig ist in jedem Fall: Die Praxis sollte nicht allein nach persönlichen geschmacklichen Präferenzen „dekoriert“ werden. Immer sollten auch die praktischen und psychologischen Bedürfnisse von Angestellten und Patienten bedacht werden. Ein professioneller Partner wie Praxisausstatter, Innenarchitekturbüro und/oder Depot können dabei unterstützen.
Und: Je früher man die Bedürfnisse im Planungsprozess erkennt, umso eher kann man bauliche Konsequenzen erkennen und die passenden Entscheidungen treffen.

Dr. phil. Dipl-Ing. Inga Ganzer
ist eine der Gründer und Geschäftsführer des Innenarchitekturbüros raumdeuter in Berlin. Sie ist Lehrbeauftragte an Hochschulen im In- und Ausland. Ihre Vortragstätigkeit bezieht sich auf den Bereich Architekturgeschichte und Designlehre, ebenso ihre Veröffentlichungen.
www.raumdeuter.de
Foto: Finn Eidam, kowerk

Ratik Goyal

hat einen Bachelor in Interior Design und sein Masterstudium in Interior Architecture von 2022 bis 2024 an der Berlin International University of Applied Sciences erfolgreich abgeschlossen. Einige seiner Entwürfe wurden bereits ausgezeichnet.
ratikgoyalwork@gmail.com
Foto: privat