Sind Persönlichkeitsrechte wichtiger als Selbstschutz?
Eine Videoüberwachung dient in den meisten Fällen dem Schutz vor Einbrüchen. Wie sieht es aber rechtlich aus, wenn die Kameras in bzw. im Bereich vor einer Zahnarztpraxis während der Öffnungszeiten auch Patienten erfassen? Ein aktuelles Urteil.
Immer wieder ist die Videoüberwachung durch Privatpersonen auf öffentlichen Plätzen und im öffentlich zugänglichen Raum Gegenstand gerichtlicher Überprüfung. Jüngst hat sich das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einem Urteil vom 27.03.2019 (Az. 6 C 2/18) grundlegend mit dieser Frage auseinandergesetzt. Beachtenswert ist das Urteil insbesondere auch deswegen, weil es eines der ersten Urteile ist, die sich mit der seit dem 25.05.2018 anwendbaren Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und ihrem Verhältnis zur alten Rechtslage auseinandersetzen. Was ist also erlaubt in Sachen Videoüberwachung in der Zahnarztpraxis?
Videoüberwachung Zahnarztpraxis: Rechtsstreit
Hintergrund des Rechtsstreits war die Videoüberwachung im Eingangsbereich der von der Klägerin betriebenen Zahnarztpraxis im ersten Stock eines Gesundheitszentrums. Die Eingangstür der Praxis ist während der Öffnungszeiten nicht verschlossen; der Empfangstresen ist nicht besetzt. Oberhalb des Tresens befindet sich eine Digitalkamera, die laufende Bilder in Echtzeit herstellt. Die Bilder können auf Monitoren angesehen werden, die die Klägerin in den Behandlungszimmern aufgestellt hat (sog. Kamera-Monitor-System). Die Klägerin hat angegeben, dass sie die Möglichkeit, die Bildaufnahmen zu speichern, nicht nutzt. Durch die Kamera werden der Bereich hinter dem Empfangstresen sowie diejenigen Bereiche überwacht, in denen sich Besucher nach dem ungehinderten Betreten der Praxis aufhalten (Bereich vor dem Empfangstresen, Flur zwischen Eingangstür und Tresen und ein Teil des vom Flur abgehenden Wartebereichs). An der Außenseite der Eingangstür und am Tresen hat die Klägerin jeweils ein Schild mit der Aufschrift „Videogesichert“ angebracht.
Anordnung und Klage
Die Landesdatenschutzbeauftragte ordnete an, die vorhandene Kamera so auszurichten, dass die Bereiche, die Besuchern offenstehen, während der Öffnungszeiten der Praxis nicht mehr erfasst werden. Die gegen die Anordnung der Landesdatenschutzbeauftragten gerichtete Klage wiesen das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage des Bundesdatenschutzgesetzes alte Fassung (BDSG a. F.) ab.
Das Bundesverwaltungsgericht setzte sich mit dem Rechtsstreit dann im Jahre 2019 auseinander, d. h., zu dieser Zeit war die DSGVO bereits anwendbar. Es bestätigte die Zurückweisung der Berufung durch das OVG und erläuterte, dass es für die Beurteilung von Vorgängen, die während der Geltung des Bundesdatenschutzgesetzes a. F. durch die Behörden abschließend beschieden wurden, auf die damalige Rechtslage ankomme. Daneben erläuterte das BVerwG jedoch, dass – und das ist für die Zukunft natürlich von erheblicher Bedeutung – die Videoüberwachung auch bei Anwendung der neuen Rechtslage nach der DSGVO unzulässig sei.
Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, dass es sich bei der Beobachtung des den Besuchern zugänglichen Bereichs der Zahnarztpraxis durch ein Kamera-Monitor-System um eine Videoüberwachung im Sinne des Bundesdatenschutzgesetzes handelte, obwohl keine Aufzeichnung erfolgte, und gelangte zu dem Ergebnis, dass diese datenschutzrechtlich unzulässig war.
Ohne Einwilligung keine Videoüberwachung in der Zahnarztpraxis
Eine rechtswirksame Einwilligung lag nicht vor und konnte auch nicht aus den Umständen geschlossen werden. Auch ein deutlich angebrachter Hinweis auf die Beobachtung lässt den Schluss nicht zu, dass Personen durch das Betreten des überwachten Raums rechtswirksam ihr Einverständnis mit der Beobachtung zum Ausdruck bringen.
Keine Rechtfertigung durch berechtigte Interessen
Auch die Voraussetzungen des BDSG a. F. für die Vornahme von Videoüberwachungen durch Privatpersonen lagen nicht vor. Gesichtspunkte der Verhinderung und Aufklärung von Straftaten stellten zwar grundsätzlich berechtigte Interessen im Sinne des Gesetzes dar. Sie konnten eine Videoüberwachung jedoch nur dann rechtfertigen, wenn eine Gefährdungslage bestand, die über das allgemeine Lebensrisiko hinausgeht. Eine solche nahm das Gericht nicht an, sodass eine Abwägung der jeweiligen Interessen hinfällig war.
Unzulässigkeit auch nach neuem Recht
Über die Feststellungen zur alten Rechtslage hinaus führte das Gericht aus, dass die Rechtsänderungen durch die seit dem 25.05.2018 anwendbare DSGVO keine Auswirkungen auf die Entscheidung haben können. Einerseits sei die DSGVO zwar auf die Maßnahmen der Datenschutzbeauftragten, die vor dem 25.05.2018 ergriffen wurden, nicht anwendbar. Im Übrigen aber wäre die streitbefangene Anordnung auch nach der DSGVO rechtmäßig. Mit Art. 58 Abs. 2d DSGVO enthält die Verordnung eine Ermächtigungsnorm, die die Aufsichtsbehörde in die Lage versetzt, den Verantwortlichen anzuweisen, Verarbeitungsvorgänge auf bestimmte Weise und innerhalb eines bestimmten Zeitraums in Einklang mit der Verordnung zu bringen.
Videoüberwachungen privater Verantwortlicher seien, so das BVerwG, nicht an den neuen Regelungen des BDSG, sondern an Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO zu messen. Danach muss die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich sein, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundrechtsfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen. Insofern hat, wie nach dem BDSG a. F., eine zweistufige Prüfung stattzufinden. Auf der ersten Stufe ist zu prüfen, ob überhaupt schützenswerte Interessen des Verantwortlichen in Rede stehen. Auf der zweiten Stufe hat eine Abwägung der Interessen stattzufinden.
Auch insoweit ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es schon auf der ersten Ebene an den berechtigten Interessen des Verantwortlichen fehle, weil eine über das allgemeine Lebensrisiko hinaus gehende Gefahr der Verwirklichung von Straftatbeständen nicht gegeben war.
Starke Betonung des Datenschutzinteresses
Interessant ist, dass das Bundesverwaltungsgericht die Neuregelung im Bundesdatenschutzgesetz (§ 4) unionrechtskonform ausgelegt hat und diese recht weitreichende Erlaubnisnorm auf die Anwendung durch öffentliche Stellen und Behörden beschränkt hat. Auch wenn der Wortlaut des § 4 BDSG eine Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen zur Wahrung des Hausrechts auch durch Privatpersonen zulassen würde, führt das Gericht aus, dass diese Regelung für Privatpersonen nicht anwendbar sei, sich solche Maßnahmen durch private Verantwortliche vielmehr an Art. 6 Abs. 1 DSGVO messen lassen müssen. Das Gericht zeigt also eine starke Betonung des Datenschutzinteresses der Betroffenen, hier der Patienten der Zahnarztpraxis.
Zusammenfassung: Videoüberwachung in der Zahnarztpraxis
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass nach der inzwischen geltenden DSGVO eine Videoüberwachung in der Zahnarztpraxis während der üblichen Praxisöffnungszeiten jedenfalls dann nicht zulässig ist, wenn auch Bereiche überwacht werden, die für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind, und die Überwachung nicht auf den Mitarbeiterbereich beschränkt ist.
Wollte man das berechtigte Interesse eines Zahnarztes zur Videoüberwachung auch während der Praxiszeiten annehmen wollen, müsste das Risiko der Begehung von Straftaten ohne diese Maßnahmen über dem allgemeinen Lebensrisiko liegen. Außerdem müsste im Zuge der Abwägung der jeweiligen Rechtspositionen geprüft werden, ob nicht mildere Mittel zur Verfügung stünden. Denkbar wäre es in solchen Fällen ja beispielsweise, dass die Eingangstür zur Praxis von außen auch während der Geschäftszeiten nicht zu öffnen oder der Empfangstresen mit Personal besetzt ist.