Zahnärzte untersuchen Bonobos im Stuttgarter Zoo Wilhelma

Zwei Zahnärzte verraten, was sie von Affengebissen lernen

Zu Forschungszwecken besuchen die Zahnärzte Dr. Gerd Reichardt und Dr. Yukimitsu Miyakawa seit Jahren den Stuttgarter Zoo. Sie beschäftigt die Frage: Warum haben viele Menschen Fehlfunktionen im Bereich des Kauorgans und Affen eben nicht?



Herr Dr. Reichardt, Sie untersuchen regelmäßig im Stuttgarter Zoo Wilhelma Affengebisse. Was ist daran so spannend?

Trotz einer genetischen Identität mit den Affen von über 98 Prozent unterscheiden sich ihre cranio fazialen Strukturen beim ersten Hinschauen gegenüber uns Menschen sehr stark. Wenn man die einzelnen Strukturen jedoch genau untersucht, so finden wir genau die gleichen knöchernen Anteile und Zähne, welche identisch mit  unseren sind. Darüber hinaus kann man viele Gemeinsamkeiten im sozialen Verhalten der Schimpansen und Bonobos beobachten.

Was ist Ihr Forschungsziel?

Vor über zehn Jahren haben wir damit begonnen, die Affen zu beobachten. Als Zahnärzte und Kieferorthopäden interessieren uns natürlich vorrangig die Funktionen des Kauapparates. Wenn wir das Kauorgan aus funktioneller Sicht betrachten, dann haben wir Menschen im Gegensatz zu unseren Verwandten sehr viele Probleme mit unseren Zähnen, Kiefern und Kiefergelenken, obwohl wir die gleiche Herkunft mit den Affen teilen. Das Ziel dieser Studie ist es herauszufinden, weshalb nur wir Menschen so viele und teilweise schwerwiegende Fehlfunktionen im Bereich des Kauorgans entwickeln und die Affen eben nicht.

Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie bislang gekommen?

Die beiden Hauptfaktoren für die Entwicklung der Dysfunktionen sind das intensive Wachstum des Gehirnschädels beim Menschen, welcher sich räumlich über den Gesichtsschädel entwickelt hat und damit dessen Raum nachhaltig reduziert. Der aufrechte Gang als Zweibeiner hat die Entwicklung des Schädels von einem mehr horizontalen (beim Affen) zu einem mehr vertikalen (beim Menschen) Wachstum verändert. Dies hat die Entwicklung des Gehirnschädels begünstigt und den notwendigen Funktionsraum des Gesichtsschädels reduziert. Ohne diese Entwicklung können wir nicht Mensch sein. Aber diese Veränderungen haben zu einer ungünstigen Entwicklung des cranio-facialen Komplexes geführt. Der Mensch hat sozusagen seine Schnauze verloren. Der Gesichtsschädel wird dabei nach hinten gedrückt, wodurch ein ausgeprägte Raumverlust für ihn entsteht. Daran müssen die Kieferbasen anpassen, was im Prinzip einer Zusammenfaltung gleich kommt. Dieser Vorgang führt außerdem zu einer Verlagerung des Unterkiefers nach hinten und oben, was eine Kompressionen der Kiefergelenke mit all ihren negativen Begleiterscheinungen mit sich bringt (hier: CMD Erkrankungen).

Sie haben eine Schiene entwickelt, die dem harmonischen Affengebiss nachempfunden ist. Wie genau funktioniert diese?

Das Wachstum des Kauorgans von Affen läuft unter deutlich günstigeren Raumverhältnissen als beim Menschen ab. Dieser Raum (die Schnauze) wird für deutlich freiere funktionelle Abläufe des Unterkiefers genutzt. Das Design der Schiene imitiert genau diese freie Funktionalität wie bei den Affen.
Auf dem Markt  der Zahnheilkunde gibt es unzählige Schienentypen deren Gemeinsamkeit darin zu finden ist, dass sie immer einen kontrollierenden Faktor in die freie Beweglichkeit des Unterkiefers miteinbringen.  Das ist grundsätzlich gegen geltende Naturgesetze. Unsere Schiene bietet minimale Kontrolle bei maximaler Freiheit. Somit kann sich der Unterkiefer völlig befreit von mechanischen Leitstrukturen gegen den Oberkiefer positionieren und stabilisieren. In seiner funktionellen Beweglichkeit wird er lediglich ganz flach über die Eckzähne vom Oberkiefer separiert.

Gibt es noch weitere Erkenntnisse aus Ihrer Forschung an den Affen, die auch für den Menschen interessant sind?

Obwohl sich die Affen fast ausschließlich vegetarisch ernähren, haben sie im Gegensatz zum Menschen einen sehr großen und scharfen Eckzahn. Diesen setzen sie ganz augenscheinlich nicht als Waffe zum Töten von Beutetieren ein, so wie es Raubtiere wie Löwen oder Tiger tun. Vielmehr benutzen sie den großen Eckzahn, um ihre augenblicklichen Emotionen wie beispielsweise Zorn oder Zuneigung  zu zeigen, oder gar ihr Gegenüber einzuschüchtern. Dieses Verhalten deutet darauf hin, dass die Funktion der Zähne nicht nur in der Nahrungszerkleinerung zu finden ist, sondern ein Instrument darstellen, mit dem man Emotionen Ausdruck verleiht.  

Sie sagen:  Vor allem das Verhalten der Affen bei Stress ist aufschlussreich. Inwiefern?

Affen sind ihren Instinkten viel näher als wir Menschen und reagieren entsprechend. Sie leben ihre Emotionen direkt aus, sobald sie unter Stress kommen. Werden sie beispielsweise bedrängt oder gar eingeschüchtert, zeigen sie sofort ihre Zähne als Ausdruck der Aggression und pressen die Kiefer fest aufeinander. Dieses Verhalten ist für ihre Existenz und ihr Überleben wichtig, wobei sich durch diesen Vorgang gleichzeitig ihr Stresslevel reduziert. Das direkte Ausleben von Emotionen wird beim Menschen durch den zerebralen Cortex verhindert, was einer der Hauptgründe für chronisch erhöhte Stresszustände ist, und die damit verbundenen Erkrankungen verursacht.

Was sagen denn Ihre Patienten und Kollegen zu Ihren Forschungen?

Am Anfang haben die Leute unsere Beobachtungen wie so oft eher belächelt. Aber durch die Behandlungserfolge bei unseren Patienten, deren therapeutische Grundlage aus der mittlerweile wissenschaftlich veröffentlichten und anerkannten Methode stammt, findet die Idee seit einigen Jahren immer mehr Beachtung bei den Kollegen. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass sich unser Ansatz sogar im Bereich des Sports positiv auswirkt. Es scheint zu einer Leistungssteigerung der Athleten zu führen und gleichzeitig die Beweglichkeit zu fördern. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu sind am Laufen.

Die Zahnärzte und Kieferorthopäden Dr. Gerd Reichardt und Dr. Yukimitsu Miyakawa arbeiten gemeinsam mit ihrem Kollegen Zahnarzt Ernst Hell in der Stuttgarter Zahnarztpraxis Landhausstrasse.

Eine Reportage des SWR über die Zahnärzte sehen Sie hier. Darin berichten die Zahnärzte über eine von ihnen entwickelte Schiene, die dem harmonischen Affengebiss nachempfunden ist.