Zahnbehandlungsangst: Das rät die neue S3-Leitlinie
Herzklopfen, schwitzige Hände, nervöser Blick: Jeder Zahnarzt kennt ihn – den klassischen „Angstpatienten“. Übersteigt die Angst ein normales Maß und nimmt sie gar krankhafte Züge an, ist professionelle Hilfe gefragt. Eine neue S3-Leitlinie zur „Zahnbehandlungsangst bei Erwachsenen“ gibt Zahnärzten nun erstmals klare Handlungsempfehlungen im Umgang mit betroffenen Patienten.
Die S3-Leitlinie wurde federführend durch die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferkeilkunde (DGZMK) und den Arbeitskreis Psychologie und Psychosomatik (AKPP) erstellt. Weitere 23 Fachgesellschaften und Institutionen halfen dabei, die evidenzbasierte Orientierungshilfe zur Epidemiologie, Diagnostik und Therapie der Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert zu erarbeiten. Dabei ging es den Leitlinienautoren inhaltlich um einen interdisziplinären Therapieansatz von Zahnarzt und Psychotherapeut, aber auch um die Akuttherapie in Notfallsituationen. Als Ziel der S3-Leitlinie definierten sie, „die zahnmedizinische Betreuung und Versorgung von Patientinnen und Patienten, die unter Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert leiden, zu optimieren.“
Zahnbehandlungsangst: Teufelskreis mit Folgen
Denn: Patienten mit Zahnbehandlungsangst meiden den Besuch in der Praxis. Eine zahnmedizinische Versorgung mit regelmäßigen Prophylaxeintervallen und minimalinvasiven Interventionen zum Erhalt der Zahngesundheit ist so kaum möglich. Kommt der Angstpatient dann doch in die Praxis – etwa weil der Leidensdruck durch Schmerzen zu groß wird – erschweren seine Ängste vor einem zahnmedizinischen Eingriff die reguläre Behandlung. Ein Teufelkreis, der zu erheblichem Mehraufwand für den Behandler und wachsenden Ängsten auf Patientenseite führt.
Definition der Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert
Für ihre S3-Leitlinie definierten die Autoren zunächst das Störungsbild:
In der vorliegenden Leitlinie wird krankhafte Zahnbehandlungsangst als intensive Gefühlsreaktion auf Elemente der zahnärztlichen Behandlungssituation verstanden, die für den Betroffenen Leiden verursacht und die angesichts der tatsächlichen Gefahren in der Situation übertrieben erscheint. Sie äußert sich nicht nur durch Gefühle von Angst, Bedrohung und Unbehagen, sondern führt auch zu kognitiven Verzerrungen bei der Situationswahrnehmung, zu typischen physiologischen Veränderungen und zu Flucht-, Ausweich- und Vermeidungsreaktionen. Sie ist mit Risiken für die Zahngesundheit verbunden und kann auf psychopathologische Prozesse hinweisen. DGZMK 2019
40 Prozent der Betroffenen haben weitere psychische Erkrankung
Die Leitlinienautoren ordnen die Zahnbehandlungsangst in den klinischen Klassifikationssystemen als “spezifische Phobie” ein (ICD F40.2, Angst vor spezifischen Situationen, hier: medizinische Kontexte). Wie sie bei der Evaluation der Studienlage herausfanden, leiden bis zu 40 Prozent der Patienten mit Zahnbehandlungsphobie an weiteren psychischen Störungen. Dabei stehen Angsterkrankungen wie generalisierte Angststörungen oder soziale Phobien im Vordergrund. Studien weisen zudem auf Zusammenhänge mit depressiven Störungen und posttraumatischen Belastungsstörungen hin.
Prävalenz der Zahnbehandlungsangst
Angstgefühle in Verbindung mit einem Zahnarztbesuch sind kein seltenes Phänomen: Wie die Autoren der Leitlinie berichten, sind rund zwei Drittel aller Patienten in Deutschland betroffen. Bei jedem Zehnten ist die Angst besonders stark ausgeprägt. Das entspricht in etwa den Angaben im internationalen Vergleich, die ebenfalls von einer Schätzung von etwa 10 Prozent ängstlichen Personen ausgehen. In den für die Leitlinie evaluierten Studien zeigten sich signifikant höhere Prävalenzraten für Frauen. Zudem erwiesen sich jüngere Patienten im Altersvergleich als besonders ängstlich: Den Studien zufolge erreichte die Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen die höchsten Prävalenzraten. Das Fazit der Leitlinien-Autoren:
Auf Grundlage der vorhandenen Daten zur Prävalenz der hochgradigen Zahnbehandlungsangst muss in Deutschland mit einem Anteil von 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung gerechnet werden, der unter einer Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert leidet. DGZMK 2019
Diagnostik der Zahnbehandlungsangst
Die Leitinien-Autoren waren sich einig, dass im frühzeitigen Erkennen der krankhaften Angst mit geeigneten diagnostischen Mitteln der Schlüssel für einen erfolgreichen Umgang mit hochgradig ängstlichen und phobischen Patienten liegt. Um einschätzen zu können, ob der Patient selbst durch die Behandlung geführt werden kann oder ob ein interdisziplinärer Behandlungsansatz erforderlich ist, müsse man zwischen hoher Ängstlichkeit und dem Verdacht auf eine Zahnbehandlungsangst mit und ohne Krankheitswert unterscheiden, so die Wissenschaftler.
Empfehlung für Zahnmediziner
Sie formulierten folgende Empfehlung für die Diagnostik der Zahnbehandlungsangst durch den Zahnarzt:
Bereits in dem Erstanamnesebogen sollte nach der Angst vor der Zahnbehandlung gefragt werden. Beantwortet der Patient diese mit „Ja“, kann er seine Angst mit einer dort integrierten Visuellen-Analog-Skala (VAS) einschätzen. Liegt die Angst über 50 % der Gesamtlänge der VAS, sollte ein zusätzlicher Angstfragebogen beantwortet werden, der auch verschiedene Behandlungssituationen anspricht. Hier bietet sich der Hierarchische Angstfragebogen (HAF) oder die deutsche Version des Dental Anxiety Scale (DAS) oder die Modified Dental Anxiety Scale (MDAS) an. Aufgrund des weiten Verbreitungsgrades des Hierarchischen Angstfragebogens (HAF) in Deutschland ist dieser Fragebogen zu bevorzugen. Bei der Ermittlung einer hohen Zahnbehandlungsangst sollte zudem nach der Dauer der Vermeidung gefragt werden. Bei gleichzeitiger Vermeidung der Besuche beim Zahnarzt liegt die Verdachtsdiagnose einer krankheitswertigen Zahnbehandlungsangst vor und es sollte die Hinzuziehung eines Facharztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten erfolgen. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil jeder zweite Patient mit krankheitswertiger Zahnbehandlungsangst mindestens eine weitere psychische Erkrankung hat. DGZMK 2019
Zahnarzt als Beobachter und Überweiser
Zusätzlich könne die sorgfältige Beobachtung des Patienten im offenen Interview Hinweise auf körperliche Anzeichen einer Angst liefern, etwa vegetative und allgemeine Symptome. Auch angsttypisches Verhalten wie das Meiden des Blickkontakts, zögerliches Antworten oder Schreckreaktionen lasse sich nach Meinung der Leitlinienautoren so erfassen. Dem Zahnarzt komme folglich die Aufgabe des Screenens, Beobachtens und ggf. Weiterleitens zu einem Psychotherapeuten zu.
Therapie der Zahnbehandlungsangst
In der Therapiefrage unterscheidet die Leitlinie zwischen Zahnbehandlungsangst mit und solcher ohne Krankheitswert. Für die pathologischen Formen stünden als Behandlungsoptionen die Psychotherapie, die Pharmakotherapie und weitere Interventionen zur Auswahl. Die Zahnbehandlungsangst ohne Krankheitswert erfordert nach Meinung der Leitlinienautoren keine spezifische Therapie: Je nach Präferenz des Patienten könnten bei Bedarf unterstützende oder stressreduzierende Verfahren wie Musik, Entspannung oder Lokalanästhesie zum Einsatz kommen.
Alle Empfehlungen zum Nachlesen finden Sie noch einmal hier in der Vollversion der S3-Leitlinie “Zahnbehandlungsangst bei Erwachsenen”.
Quelle: DGZMK