Präventionsorientierte Parodontitistherapie vor dem Aus?
Im ersten Halbjahr 2023 gingen die Neubehandlungsfälle für die dreijährige neue, präventionsorientierte Parodontitis-Behandlungsstrecke bundesweit signifikant zurück, bei einer weiterhin unverändert hohen Krankheitslast. Das geht aus einer aktuellen Pressemitteilung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG PARO) hervor. Dass dies gravierende negative Auswirkungen auf die Mund- und Allgemeingesundheit der Bevölkerung hat, geht aus dem Evaluationsbericht hervor, den die KZBV gemeinsam mit der DG PARO vorgelegt hat - hier die zusammengefassten Ergebnisse.
Der Bericht belegt erstmals anhand konkreter Daten die verheerenden Auswirkungen des im vergangenen Jahr in Kraft getretenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) auf die Parodontitisversorgung in Deutschland. Die zentralen Ergebnisse des Evaluationsberichtes sind:
- Im Juli 2023 lag die Zahl der PAR-Neubehandlungen lediglich bei rund 92.400 Neubehandlungsfällen, was einen Rückfall auf das Niveau vor Einführung der neuen, präventionsorientierten PAR-Behandlungsstrecke bedeutet.
- Der Trend deutet auf weiter zurückgehende Neubehandlungsfälle hin. Es ist zu befürchten, dass der durch die Gesetzgebung ausgelöste langfristige Schaden für die PAR-Versorgung künftig noch spürbarer sein wird.
- Trotz rückläufiger neuer Behandlungsfälle kommt es im Jahr 2023 durch Folgeleistungen aus bereits begonnenen Behandlungen zu steigenden Gesamtleistungsmengen. Die Regelungen des GKV-FinStG führen dazu, dass die Mittel nicht ausreichen und zunächst für die Weiterbehandlung der in den Vorjahren begonnenen Fälle aufgewendet werden müssen. Dies käme drastischen Leistungskürzungen gleich.
- Aufgrund der vertraglichen Regelungen ergeben sich regional unterschiedlich starke Auswirkungen des GKV-FinStG. Damit droht eine Versorgungslage der Versicherten, die davon abhängt, in welchem Bundesland der oder die Versicherte behandelt wird und bei welcher Krankenkasse sie oder er versichert ist.
- Die Auswirkungen des GKV-FinStG sind mit erheblichen Folgekosten für die Krankenkassen verbunden. Im zahnärztlichen Bereich summieren sich diese auf rund 200 Mio. Euro jährlich. Es ist auch von deutlich negativen Auswirkungen des GKV-FinStG auf die Allgemeingesundheit der Versicherten und dadurch von Folgekosten auch im ärztlichen Sektor auszugehen – insbesondere im Zusammenhang mit Diabeteserkrankungen.
- Indirekte Krankheitskosten von unbehandelter Parodontitis (z. B. durch Produktivitätsverlust aufgrund der Abwesenheit vom Arbeitsplatz, Zahnlosigkeit oder unbehandelter Karies bei Patienten mit Parodontitis) liegen laut einer international vergleichenden Studie für Deutschland bei rund 34,79 Mrd. Euro. Die konsequente Therapie von Parodontitis würde diese Kosten zumindest reduzieren und die Wirtschaft entlasten.
„Unsere Evaluation zeigt, dass die Zahl der Parodontitisbehandlungen nach Einführung der neuen, präventionsorientierten Behandlungsrichtlinie im Juli 2021 auch aufgrund des erleichterten Zugangs zur Therapie gestiegen ist – ein voller Erfolg für die Patientenversorgung. Die Regelungen des GKV-FinStG führen jetzt aber dazu, dass die Mittel nicht ausreichen, um die neue Parodontitistherapie flächendeckend auf ein Niveau zu heben, das der hohen Krankheitslast angemessen ist“, sagt Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstandes der KZBV und Prof. Dr. Peter Eickholz, ehemaliger Präsident und Mitglied der DG PARO, ergänzt: „Notwendige Präventionsmaßnahmen wurden lange Zeit durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen nicht ausreichend abgedeckt. Mit der im Juli 2021 eingeführten neuen, präventionsorientierten Parodontitistherapie, die auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, können Patienten umfassend und am individuellen Bedarf ausgerichtet behandelt werden. Damit ist diese Parodontitisbehandlung, die sich über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren erstreckt, eine zentrale Präventionsleistung für die Mund- und Allgemeingesundheit und wurde völlig zurecht bei ihrer Einführung von allen Beteiligten, das heißt auch von den Krankenkassen und dem Bundesministerium für Gesundheit, als ‚Meilenstein‘ für die Mundgesundheit in Deutschland begrüßt.“
Parodontitis und die neue Behandlungsrichtlinie
Parodontale Erkrankungen sind nach wie vor der Hauptgrund für den Verlust von Zähnen bei Erwachsenen. Jeder Zweite leidet aktuell an einer behandlungsdürftigen Parodontitis. Die Volkskrankheit steht zudem in direkter Wechselwirkung mit Diabetes und hat Einfluss auf weitere schwere Allgemeinerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und rheumatische Erkrankungen. Zudem kann sie ein erhöhtes Risiko für Demenzerkrankungen und schwere Corona-Verläufe darstellen.
Die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) hat gezeigt, dass Parodontalerkrankungen im Alter zunehmen und vor dem Hintergrund der großen demografischen Veränderungen in Deutschland zukünftig eine immer größere Rolle spielen werden.
Die Behandlung dieser komplexen Entzündungserkrankung in der GKV entsprach über Jahrzehnte nicht mehr dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Zudem stand die Anzahl der Behandlungen in einem deutlichen Missverhältnis zur Zahl der Krankheitsfälle.
Die zum 1. Juli 2021 in den GKV-Leistungskatalog aufgenommene neue Parodontitistherapie sollte dies ändern. Diese neue Parodontitistherapie mit einer bis zu dreijährigen Behandlungsstrecke befand sich allerdings mit Inkrafttreten des GKV-FinStG immer noch in der Einführungsphase, in der ihr die Budgetierung nun die notwendigen finanziellen Mittel entzieht.