Mundgesundheit in Europa #Episode 1

Das Präventionspotenzial wird noch zu wenig genutzt

Das Thema Mundgesundheit hat auf internationaler Ebene an Relevanz gewonnen, nicht zuletzt durch den WHO Oral Health Report (2022). Doch wie sieht es mit der zahnmedizinischen Versorgung und dem Thema Prävention ganz konkret in Europa und Deutschland aus? Dr. Juliane Winkelmann, Berlin/Brüssel, kennt die wissenschaftlich fundierte Datenlage und berichtet uns im Laufe diesen Jahres aus aktuellen Studien des European Observatory on Health Systems and Policies in Brüssel.


Illustration of an European Union long shadow flag with a tooth


Welchen Stellenwert hat das Thema Mundgesundheit im Vergleich zur allgemeinen Medizin in Europa, Frau Dr. Winkelmann?
Dr. Juliane Winkelmann (JW): Auf internationaler Ebene hat das Thema Mundgesundheit verstärkt Aufmerksamkeit durch verschiedene internationale Initiativen wie dem WHO Oral Health Report (2022), der WHO Resolution Oral Health (2021) und der Lancet Oral Health Commission (2019) erhalten. Die Wichtigkeit von Mundgesundheit für die Gesamtgesundheit, die Verbindungen mit anderen chronischen Krankheiten (Risikofaktoren) und auch die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes, insbesondere in der Prävention, haben dadurch an Stellenwert gewonnen.
Allerdings wissen wir relativ wenig über die Unterschiede in der zahnmedizinischen Versorgung, der Finanzierung und Abdeckung von Leistungen zwischen den Ländern.

Prävention ist für die Mundgesundheit unerlässlich. Wie sind die Zahnärzte in Europa in diesem Bereich aufgestellt?
JW: In Europa wird das Potenzial von Prävention in der Zahnheilkunde immer noch zu wenig genutzt, um die Mundgesundheit zu verbessern und Kosten für Behandlungen einzudämmen. In einer qualitativen Studie wurden Zahnärzte und Aufsichtsbehörden in fünf europäischen Ländern befragt, welche die größten Hindernisse für Mundgesundheitsprävention darstellen. Sie nannten insbesondere das Fehlen von Monitoring von präventiven Maßnahmen, das wieder dazu führt, dass es kaum professionelle Standards und Vergütungssysteme gibt, die Anreize für präventive Mundgesundheitsbehandlungen oder Beratung bieten.
Des Weiteren führten sie mangelnde Kenntnisse und Motivation von Zahnärzten für Prävention an. Dies ist unter anderem auf die behandlungsorientierte Ausbildung als auch die unklare Aufgabenaufteilung in der Prävention zwischen den Berufsgruppen zurückzuführen.

Im Bereich Prävention haben Dentalhygieniker/innen (DH) eine Schlüsselrolle. Sind hier Veränderungen bei der Leistungserbringung zu beobachten?
JW: Der Tätigkeitsbereich von Dentalhygieniker/innen (DH) ist in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich. Im Allgemeinen führen DH Aufklärung sowie Untersuchung, Diagnose und Bereitstellung von präventiven Mundgesundheitsleistungen durch.
In einigen Ländern, wie in Dänemark, Irland und den Niederlanden, können sie auch auf Wunsch des Zahnarztes eine provisorische Füllung legen. In Dänemark und den Niederlanden können sie eine Beurteilung vornehmen und einen Behandlungsplan erstellen. In den Niederlanden dürfen DH auch Zahnsteinentfernung und Wurzelglättung (Scaling und Root Planning) durchführen, Fissuren versiegeln, Röntgenaufnahmen, Anästhesie und Alginatabdrücke durchführen. DH können entweder direkt oder auf Überweisung eines Zahnarztes aufgesucht werden. In den Niederlanden verweisen insgesamt neun von zehn Zahnärzten regelmäßig an DH.

Verändert sich die Stellung der DH?
JW: In Europa arbeiten DH sowohl in Zahnarztpraxen als Teil eines Teams sowie als Selbstständige, weshalb sie eine wichtige Rolle für die interprofessionelle Zusammenarbeit und Teamarbeit spielen. Die meisten europäischen Länder haben Dentalhygieneschulen mit Ausnahme von Österreich, Bulgarien, Zypern, Frankreich, Griechenland und Luxemburg. Die Ausbildung dauert in den einzelnen Ländern zwischen zwei und vier Jahren mit sehr unterschiedlichen Lehrplänen.

Medizin und Zahnmedizin, wie ist es um die ganzheitliche Betrachtung der Patienten bestellt?
JW: Die Zahnmedizin findet in fast allen europäischen Ländern getrennt von der Humanmedizin statt, dies beginnt bei der separaten Ausbildung und zieht sich durch unterschiedliche professionelle Kulturen und Traditionen fort. Zahnärzte und medizinisches Fachpersonal arbeiten daher meist getrennt, in sehr unterschiedlichen Settings und Bereichen.
Das Gesundheits- und Pflegepersonal verfügt meist über sehr wenig Wissen zu Themen der Mundgesundheit, vor allem aufgrund der begrenzten Ausbildungsinhalte. Dies führt dazu, dass der Mundgesundheit in Settings außerhalb der zahnärztlichen Versorgung meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Welche Auswirkungen hat das und wie kann man diesen begegnen?
JW: Dies kann insbesondere problematisch für ältere Menschen in Heimen und Pflegeeinrichtungen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität sein, die nicht in der Lage sind, ihre zahnmedizinischen Bedürfnisse einzuschätzen und/oder eine zahnärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen.
Aus diesem Grund ist es notwendig, die zahnmedizinische Versorgung stärker in die Primärversorgung zu integrieren und die medizinische sowie zahnmedizinische Ausbildungen interprofessioneller auszurichten und gleichzeitig ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Mundkrankheiten und chronischen Erkrankungen und gemeinsamen Risikofaktoren zu schärfen.
In vielen europäischen Ländern wird zunehmend der Zusammenhang der Risikofaktoren von Mundgesundheit und anderen chronischen Krankheiten als auch die Notwendigkeit der Integration der zahnärztlichen Versorgung erkannt.
Schweden prüft beispielsweise derzeit Möglichkeiten, die Mundgesundheit besser in die Primärversorgung zu integrieren, insbesondere für Patienten mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität. Erkundet werden Kooperationen vor Ort zur Vorsorge durch Einbeziehung der Zahnheilkunde. Deutschland hat 2014 Rahmenverträge für die Kooperation von niedergelassenen Zahnärzten und Pflegeheimen eingeführt.

Stichwort Deutschland: Wie ist es grundsätzlich um die zahnmedizinische Versorgung in Deutschland bestellt, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern?
JW: Deutschland zählt zu den Ländern mit den höchsten Ausgaben für zahnmedizinische Leistungen sowohl als Anteil (%) vom BIP und Gesamtgesundheitsausgaben als auch pro Kopf. Dies hängt insbesondere mit dem umfassenden Leistungspaket für zahnmedizinische Behandlungen zusammen.
Die privaten Zahlungen für Mundgesundheit sind daher im europäischen Vergleich relativ niedrig (pro Kopf liegen sie im Mittelfeld) und auch der ungedeckte Bedarf ist gering. Deutschland hat eine überdurchschnittliche Dichte von Zahnärzten (85 vs 76 pro 100.000) und zahnmedizinischen Fachangestellten.

Herzlichen Dank für das interessante Gespräch, Frau Dr. Winkelmann.  

#Episode 2 erscheint im DENTAL MAGAZIN September 2023

Dr. Juliane Winkelmann
Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die vergleichende Gesundheitssystemforschung,
zahnmedizinische Versorgung, globale Gesundheit, das Gesundheitspersonal sowie Skill Mix
und neue Versorgungsformen. In diesen Fachgebieten arbeitet sie hauptsächlich für das
European Observatory on Health Systems and Policies in Brüssel.
Oral health care in Europe: Financing, access and provision
https://tinyurl.com/OBSoralhealthHIT
Foto: privat