Therapie bei Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

MIH: Ursachen der Mineralisationsstörung bei Kindern unbekannt

Vorbildliche Zahnhygiene, gesunde Ernährung, kaum Süßigkeiten und dennoch tief zerstörte Kinderzähne: Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) bewegt das Fach und mehr und mehr die Öffentlichkeit. Die Ursachen sind nach wie vor unbekannt. Was tun?



Mehr als zehn Prozent der Kinder sind betroffen, leiden je nach Schweregrad unter desolat aussehenden Sechsern und/oder Frontzähnen, trotz guter Zahnhygiene. Eltern plagen Schuldgefühle. Die Mineralisationsstörungen sind bei mindestens der Hälfte der Kinder extrem schmerzhaft [1]. Schon wenn der Zahnarzt nur zum „Püster“ greift, reagieren die Kleinen panisch.

Sie wissen: Das tut weh! „Wer sich nicht auf die Kinderzahnmedizin spezialisiert hat, könnte durchaus denken, das Kind übertreibt“, meint Prof. Dr. Ulrich Schiffner, Universitätsklinikum Hamburg und Fortbildungsreferent der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin (DGKiZ). In seiner Klinik steigt jedenfalls die Zahl der Überweisungen derzeit rasant. Auch DGKiZ-Präsident Prof. Dr. Dr. Norbert Krämer, Gießen, sieht die Brisanz: „Das Thema wird die Zahnmediziner ein Leben lang begleiten“, ist er sich sicher.

Woran erkenne ich eine MIH?

MIH-Molaren weisen einzelne weiß-cremige bis gelb-braune Verfärbungen im Bereich der Kauflächen und/oder der Höcker oder des oberen Kronendrittels auf (Schweregrad A). Schwerwiegender ist das Auftreten überwiegend fehlmineralisierten Zahnschmelzes, der alle Höcker mehr oder weniger erfasst, aber nur geringfügige Hypoplasien erkennen lässt (Schweregrad B). Es treten auch Zähne mit defekter Kronenmorphologie auf, deren großflächige Mineralisationsstörungen mit ausgeprägten gelblich-bräunlichen Verfärbungen einhergehen (Schweregrad C).

Per Definition sollten nur die ersten, permanenten Molaren und Inzisiven befallen sein. Doch das MIH-Befallsmuster scheint sich auszuweiten. Auch am zweiten Molaren entdeckt man immer häufiger die MIH-Defekte [2]. Schiffner: „Je genauer wir hinsehen, desto mehr Schäden registrieren wir.“ Die geltende MIH-Definition hält er damit für überholt.

Was ist MIH?

Handelt es sich um ein neues Krankheitsbild? Auch das ist ungewiss. „Ende der 1980er-Jahre gab es das erste Mal Beschreibungen einer Mineralisationsstörung aus Schweden, die wir heute eindeutig als MIH wiedererkennen“, berichtet Schiffner. Zurzeit hält er drei Erklärungsmodelle für plausibel:

  •  Die MIH wurde bislang schlicht übersehen. Von Karies „maskiert“, blieben die Defekte unsichtbar. Aufgrund des Kariesrückgangs bei Kindern fallen sie nun auf.
  •  Es existiert ein neues MIH-Bewusstsein. Man achtet einfach mehr auf die Anomalien des Zahnschmelzes.
  • MIH ist ein Neuzeit-Phänomen und nimmt tatsächlich zu.

Rätselhaft ist das Nord-Süd-Gefälle der Strukturanomalie, wie Krämer, bis Mitte 2014 EAPD-Vorstandsmitglied, ausführt. Skandinavien etwa habe ein enormes MIH-Problem, auch Dänemark klage über Prävalenzraten von 40 Prozent in einigen Regionen. Ganz anders in Südeuropa. Dort scheinen MIH-Defekte eher rar zu sein.

Gründe für regionale Häufung von MIH

Wie lässt sich das erklären? Wurden die Kinder vielleicht nicht zum richtigen Zeitpunkt, nämlich mit acht Jahren, „gecheckt“. Das zieht Krämer zumindest in Betracht. Standardmäßig laufen die Untersuchungen nicht mit acht, sondern mit sechs oder sieben Jahren und dann erst wieder mit zwölf. Das Zeitfenster dazwischen fehlt. Sind bei den Sechsjährigen weder der Sechser noch Frontzähne durchgebrochen, fallen sie damit durch das „Raster“. Und sechs Jahre später verbergen möglicherweise Füllungen und Karies den Schmelzschaden.

Krämer: „Das ist die Crux bei der ganzen Geschichte.“ Auch in Deutschland scheint sich ein MIH-Gefälle abzuzeichen. Das zeigt eine MIH-Studie der Greifswalder Arbeitsguppe um Prof. Dr. Christian Splieth und Dr. Marina Petrou zur MIH-Prävalenz in den Städten Düsseldorf, Hamburg, Greifswald und Heidelberg. Die MIH-Prävalenz der gesamten Stichprobe − 2395 Kinder im Alter von acht Jahren − lag bei 10,1 Prozent. Mit Blick auf die einzelnen Städte zeigen sich aber signifikante Unterschiede.

MIH-Spitzenreiter ist danach Düsseldorf mit einer Prävalenzrate von 14,8 Prozent, gefolgt von Hamburg mit 14 Prozent und Heidelberg mit sechs Prozent. Achtjährige in Greifswald leiden am wenigsten unter den Strukturanomalien, die Prävalenzrate liegt dort bei 4,3 Prozent.

Kariesgefahr spielt eine Rolle

Mit Karies hat diese Mineralisationsstörung zunächst einmal nichts zu tun. Aus diesem Grund lässt sich die Zerstörung der Zähne auch nicht durch perfekte Mundhygiene in den Griff bekommen. Die Kariesgefahr spielt aber dennoch eine Rolle, „wenn die ersten Abplatzungen auftreten“, wie Krämer und Schiffner unterstreichen. Denn dann bieten sich „beste Angriffsflächen für Bakterien, so dass sich auf einer MIH ruckzuck eine Karies etabliert“. Dazu kommt, das belegt die Greifswalder Studie ebenfalls: Mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder hat Schmerzen, das Zähneputzen wird zur Tortur.

Verschiedene Ursachen von MIH diskutiert

Als Ursachen wird unter anderem über Vitamin-D-Mangel, Medikamentenverabreichungen und Erkrankungen während der ersten drei Lebensjahre, Dioxineinfluss sowie Substanzfreisetzungen aus Kunststoffsaugerflaschen oder Nuckeln diskutiert. Da die Schmelzbildung der Sechser-Molaren und mittleren Frontzähne dieser Zähne zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem dritten Lebensjahr stattfindet, geht man davon aus, dass die Ursachen in diesem Zeitraum liegen müssen.

Genetische Dispositionen als MIH-Auslöser und sozioökonomische Hintergründe scheiden als Ursachen offenbar aus. Auch sollen Mädchen und Jungen gleich häufig betroffen sein, heißt es.

Dass Bisphenol A in der Muttermilch – 39 Prozent des Bisphenol A, das Kleinkinder zu sich nehmen, soll aus der Muttermilch stammen – zu solchen veränderten Schmelzstrukturen führen kann, wurde zwar im Tierversuch nachgewiesen, wie Krämer einräumt. Doch andere Untersuchungen hätten bei „Flaschenkinder“ eine höhere MIH-Prävalenz nachgewiesen. Er empfiehlt deshalb, das Trinken aus Plastikflaschen ebenso zu vermeiden wie den Verzehr in Plastik verpackter Lebensmittel.

Egal, welchen Erklärungsansatz man unter die Lupe nimmt, fast jede Hypothese lässt sich widerlegen, so auch die häufige Antibiotikagabe in der frühen Kindheit. Dagegen spricht, dass in Greifswald, wo die niedrigste MIH-Rate gefunden wurde, gleichzeitig die höchste regionale Antibiotikanutzung bei Kindern bis zu sechs Jahren beschrieben wird. In Düsseldorf dagegen, der Stadt mit der höchsten MIH-Prävalenz, wurden kleinen Kindern deutlich weniger häufig Antibiotika verordnet. [3].

Bleibt – vorbehaltlich der fehlenden Ursachennachweise – festzuhalten: MIH tritt verstärkt auf nach

  • Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen
  • und schweren Erkrankungen in der frühen Kindheit mit stationärer Aufnahme und Antibiotikagabe.

Sicher zu sein scheint zudem, dass es sich um eine „erworbene“, nicht um eine ererbte Erkrankung handelt, die je nach Schweregrad therapiert werden muss. Bereits im Jahr 2009 widmete sich die EAPD diesem Thema. In Helsinki trafen sich 170 Experten aus ganz Europa, um Leitlinien auf den Weg zu bringen. Krämer: „Aus der anvisierten Guideline wurde aufgrund der noch so schlechten Datenlage eine Guidance.“ (Siehe Therapieoptionen, Seite 12, und www.eapd.gr). Danach gibt es drei MIH-Stufen mit unterschiedlichen Therapieansätzen.

Ausblick

Bundesweit sind die Experten alarmiert, weitere Studien laufen. Besonders spannend wird es in Gießen. Denn dort hat die MIH-Forschung mehr als ein Jahrzehnt Tradition. Bereits Krämers Vorgänger Prof Dr. Werner E. Wetzel hat im Rahmen einer Dissertation die MHI-Prävalenz im Lahn-Dill-Kreis untersuchen lassen. „Damals lag die MIH-Prävalenz hier bei 5,9 Prozent“, so Krämer.

Er hat die Untersuchung in exakt derselben Region wiederholt. Die Daten sollen noch im Juli vorliegen. Krämer: „Ich bin sehr gespannt, was da rauskommt.“

Therapieoptionen bei MIH

Schweregrad A:

  • Sichtbar sind einzelne, weiß-cremefarbene bis braune Flecken an den Kauflächen oder Höckerspitzen der Molaren, oft auch der vestibulären Flächen von Schneidezähnen.
  • Bei intakter Oberfläche, Schmerzfreiheit und ohne Kariesrisiko lässt man den Sechsjahresmolaren durchbrechen, fluoridiert den Zahnschmelz und deckt, wenn möglich, den Bereich, der beeinträchtigt ist, mit einem Versiegeler oder niedrigviskösen Komposit ab. Denn der MIH-Schmelz besitzt gerade einmal ein Zehntel der Härte des normalen Schmelzes. Ohne Abdeckung könnte der Zahn unter der Kaubelastung einbrechen.

Schweregrad B:

  • Sichtbar ist überwiegend gelb-brauner Schmelz an einzelnen Höckern von Molaren mit einzelnen Schmelzeinbrüchen bzw. der gesamten vestibulären Fläche von Schneidezähne.
  • Die Behandlung läuft wie beim Schweregrad A, aber: Treten Einbrüche auf, müssen Berührungsempfindlichkeiten und Sensibilitäten einkalkuliert und die Fissur im Durchbruch muss mit einem dünnfließenden Glasionomerzement versorgt werden.

Schweregrad C:

  • Die Mineralisationsstörung ist großflächig mit gelb-braunen Verfärbungen und Defekten an den Zahnkronen von Molaren und Schneidezähnen.
  • Die Zähne werden zunächst mit einem Glasionomerzement abgedeckt, der Zahnarzt begleitet den weiteren Durchbruch. Unter Lokalanästhesie erfolgt dann die Abdeckung der vollständig durchgebrochenen Zähne mit Komposit. Eine Alternative ist die Verwendung konfektionierter Stahlkronen. Sind die Kinder zehn oder zwölf Jahre alt, wird entschieden, ob es sinnvoll ist, diese Zähne zu erhalten.
  • Schaut der Zwölfjahresmolar im Röntgenbild unauffällig aus und ist der Weisheitszahn angelegt, könnte man auch extrahieren und die Molaren 2 und 3 bzw. 7 und 8 kieferorthopädisch entsprechend einstellen. Das wird in Skandinavien häufig so gemacht, in Deutschland ist man eher zurückhaltend.

 

Literatur:

1 M. A. Petrou et al.:Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH): Prävalenz und Therapiebedarf in Deutschland. DZZ 2014, S. 647 bis 650

2 R. Steffen, N. Krämer, Therapie bei der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH), Übersichtsarbeit, Oralprophylaxe (OP) 1/ 2014, S. 36-44

3 M. A. Petrou et al.:Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH): Prävalenz und Therapiebedarf in Deutschland. DZZ 2014, S. 649

4 N.A. Lygidakis, F. Wong, B. Jälevik, A-M.Vierrou, S. Alaluusua, I. Espelid, Best Clinical Practice Guidance for clinicians dealing with children presenting with Molar-Incisor-Hypomineralisation (MIH), An EAPD Policy Document, European Archives of Paediatric Dentistry // 11 (Issue 2). 2010, S. 75

Weitere Literatur

  1. Alaluusua S: Aetiology of molar-incisor hypomineralisatin: A systematic review. Eur Arch Paediatr Dent 2010;11:53–58
  2. BARMER GEK. https://antibiotika.fak tencheck-gesundheit.de/interaktive-karten/, letzter Zugriff 2014
  3. Chawla N, Messer LB, Silva M: Clinical studies on molar-incisor-hypomineralisatin part 1: distribution and putative associations. Eur Arch Paediatr Dent 2008;9:180–90
  4. de With K, Schröder H, Meyer E et al.: Antibiotikaanwendung in Deutschland im europäischen Vergleich. Dtsch Med Wochenschrift 2004;129:1987–1992
  5. Dietrich G, Sperling S, Hetzer G: Molar incisor hypomineralisatin in a group of children and adolescents living in Dresden (Germany). Eur J Paediatr Dent 2003;4:133–137
  6. Feierabend S, Gerhardt-Szép S: Evidence-based Dentistry – Tipps für die Praxis. Fall 8: Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Dtsch Zahnärztl Z 2014;69:70–74
  7. Heitmüller D, Thiering E, Hoffmann U et al.: Is there a positive relationship between molar incisor hypomineralisations and the presence of dental caries? Int J Paediatr Dent 2013;23:116–124
  8. Jälevik B, Klingberg G, Barregård L, Norén JG: The prevalence of demarcated opacities in permanent first molars in a group of Swedish children. Acta Odontol Scand 2001;59:255–260