Parodontologie hat keine Lobby
Auch wenn sich immer mehr Implantologen in erster Linie als Parodontologen sehen, fehlt es dem Fach in Deutschland an Image. Zahnärzte extrahieren lieber und schaffen „sichere Zähne“ für Restaurationen, anstatt parodontal kompromittierte Zähne zu erhalten, wie eine Studie der Universität Greifswald zeigt. Das honoriert die Gebührenordnung und – bislang jedenfalls – auch der Patient. Steht nun eine Trendwende an?
Der parodontal erkrankte Zahn ist ein schlechter Zahn. Das haben Zahnärzte gelernt und so haben sie jahrelang gehandelt, wie eine Studie aus Greifswald belegt. Aus rund 8000 extrahierten Zähnen, die eine zahnärztliche Entsorgungsfirma gesammelt hatte, wurden randomisiert 500 Zähne ausgewählt. Ergebnis: Eine beträchtliche Anzahl von Zähnen, ungeachtet des Zahntyps, sowohl ohne als auch nur mit geringer koronaler Destruktion, musste „dran glauben“, obwohl das Attachmentniveau 50 bis 70 Prozent betrug. Doch extrahieren würde zum Beispiel der Bielefelder Parodontologe Dr. Gerd Körner erst bei „deutlich unter 50 Prozent Attachment“.
Eine weitere Erhebung zum Thema Extraktion und Parodontalerkrankungen fand im Rahmen der Greifswalder SHIP-Studie mit 4000 Probanden statt, die vor 15 Jahren startete und deren Teilnehmer alle fünf Jahre nachuntersucht werden. Für Prof. Dr. Thomas Kocher, Mitautor der Studie, belegen diese Daten imposant, dass sich sehr viel mehr Zähne würden retten lassen, als es tatsächlich der Fall ist. Das „schnelle Extrahieren“ führt Kocher auf mangelndes Know-how, vor allem aber auf fehlende finanzielle Anreize zurück. Kocher: „Die Extraktion und anschließende prothetische Versorgung mit einer Brücke oder einem Implantat ist einfacher und lukrativer.“
Das Scalen an sich „wird ganz ordentlich honoriert“, räumt Dr. Markus Schlee, Forchheim, ein. Doch da folge ja noch ein „Rattenschwanz an Kosten“: In seiner Praxis bedeutet das für den Parodontitispatienten: mindestens viermal pro Jahr eine Stunde Dentalhygiene und bei Bedarf parodontalchirurgische Maßnahmen. Diese unterstützende PA-Therapie (UPT) müsse der Patient aus eigener Tasche zahlen. Da kämen durchaus 600 bis 800 Euro pro Jahr zusammen.
Warum wird lieber extrahiert als erhalten? Ein Grund sei sicherlich die Technik- und Fortschrittsgläubigkeit sowohl vieler Behandler als auch Patienten, vermutet Körner. Weitere Ursachen sieht er in mangelnder PA-Ausbildung und Erfahrung und in der Unsicherheit vieler Kollegen. „Es fehlt letztlich der bundesweite Fachzahnarzt für Parodontologie“, meint Dr. Moritz Kebschull, Bonn. Er selbst hat diesen Titel bei der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe erworben.
Es greift aber zu kurz, den Zahnärzten vorzuwerfen, sie beherrschten ihr Fach nicht, unterstreicht Schlee. Zwar sei so mancher Kollege schon erstaunt, „was heute so alles erhaltbar ist“, doch schließlich lehnten „auch viele Patienten den meist „langen und aufwendigen“ Weg der PA-Therapie ab.
Auch die Sorge vor Regressen kann das Extrahieren beschleunigen. „Denn wer kann schließlich schon garantieren, dass der prothetisch versorgte parodontal kompromittierte Zahn die gesetzlich vorgeschriebene Gewährleistung von zwei Jahren tatsächlich überlebt?“, fragt Kebschull. PD Dr. Stefan Fickl, Würzburg, kann jedenfalls jeden Kollegen verstehen, der lieber extrahiert und auf „sicheren Zähnen“ Konstruktionen anfertigt.
Es braucht neue Anreize
Was tun? Neue Anreize schaffen? Die Ausbildung verbessern? Der Vorstand der DG PARO kämpft um mehr Lobby fürs Fach und hat im September Repräsentanten aus Forschung, Ärzteschaft und Gesetzlicher Krankenversicherung zum Parlamentarischen Abend nach Berlin geladen. DG-PARO-Präsident Prof. Dr. Peter Eickholz skizzierte dort das „eklatante Missverhältnis“ zwischen Krankheitshäufigkeit und der Zahl der zulasten der gesetzlichen Krankenkasse abgerechneten Behandlungsfälle: Mehr als 20 Millionen Deutsche leiden an einer Parodontitis, doch weniger als 1 Million Fälle reichten Kassenzahnärzten jährlich zur Abrechnung ein. Die Sozialversicherung zahle dafür etwa 380 Millionen Euro.
Und das sei sicherlich wenig im Vergleich zu den knapp 900 Millionen, die AOK und Co. für die Regulierung von Zahnfehlstellungen ausgeben. So, da ist sich Eickholz sicher, bekomme man die Parodontitis nicht in den Griff. Nach konservativen Schätzungen ständen etwa acht Millionen behandlungsbedürftigen schweren Fällen von Parodontitis nur 980 900 abgerechnete Behandlungen gegenüber. Vor allem ältere Menschen seien betroffen, etwa 40 Prozent der Senioren wiesen eine schwere Form der Parodontitis auf.
Implantologie-Hype gleich Imagetöter?
Sehr geschadet habe dem Fach Parodontologie in Deutschland der anfängliche Implantologie-Hype vor etwa 15 Jahren, meint Prof. Dr. Heinz Topoll, Parodontologe in Münster. Lange seien die wissenschaftlich nachweisbar sehr guten Langzeitergebnisse der PA-Therapie medienwirksam geleugnet worden. Konsequenz: Junge Zahnärztinnen und Zahnärzte favorisieren heute die Implantologie. Das spiegelt sich auch deutlich in der Anzahl der Mitglieder der beiden Fachgesellschaften wider. Während die seit mehr als 90 Jahren bestehende DG PARO 4400 Mitglieder zählt, begrüßte die 1994 gegründete Deutsche Gesellschaft für Implantologie im Herbst letzten Jahres feierlich den Beitritt ihres 8000. Kollegen. „Da wurde eine Entwicklung in der Fachgesellschaft verschlafen“, meint Schlee. „Das ist ein Trauerspiel. International nimmt man die deutsche Parodontologie nicht ernst.“ Der weltweit akzeptierte Behandlungsbaum laufe in den Kaskaden „Initiale Therapie, geschlossene Therapie, Reevalua‧tion sowie gegebenenfalls chirurgische Therapie“ ab, die eben auch die Implantologie umfasse. „Es folgt dann in der Regel lebensbegleitend die unterstützende PA-Therapie.“
Und Topoll fordert: „An den Universitäten sollte die geschlossene Parodontitistherapie konsequent gelehrt werden. Das Handling muss perfekt eingeübt und kontrolliert werden.“ Er fordert für die geschlossene PA-Therapie die gleichen Standards wie für die moderne restaurative Zahnheilkunde. Dazu zählten unter anderem eine perfekte Assistenz und die Arbeit mit Lupenvergrößerung zur möglichst optimalen Übersicht. Eine perfekt durchgeführte geschlossene PA-Therapie bei leichter bis mittelschwerer Parodontitis mit regelmäßigem Recall auf gleichem Niveau garantiere, dass der Patient anschließend kaum Zähne verliere.
Hochschullehrer mahnen deshalb eine Reform der 60 Jahre alten Approba‧tionsordnung an. Es sei höchste Zeit, dass die Parodontologie auch in der Ausbildung einen höheren Stellenwert in den zahnmedizinischen Disziplinen bekomme, heißt es, und das findet auch Kocher. Denn eigenständige Lehrstühle für Parodontologie gebe es bundesweit gerade einmal in Münster, Frankfurt a. M., Dresden, Marburg/Gießen und Berlin. Kocher: „In der Regel wird die Parodontologie der ‚Kons‘ zugeschlagen.“ Er wünscht sich eine Aufwertung des Fachs in der zahnärztlichen Ausbildung.
Fachzahnarzt für Parodontologie?
Der 2004 ins Leben gerufene Berufsverband der Fachzahnärzte und Spezialisten für Parodontologie e. V. (BFSP) geht noch einen Schritt weiter und fordert, die bundesweite Einführung des Fachzahnarztes für Parodontologie in die Weiterbildungsordnungen der Landeszahnärztekammern aufzunehmen. Bis heute macht das allein die Zahnärztekammer Westfalen-Lippe. Neben Oralchirurgen und Kieferorthopäden werden dort auch Parodontologen ausgebildet.
Für einen Fachzahnarzt für Parodontologie sprechen sich dagegen weder der erfahrene Dr. Karl-Ludwig Ackermann, Filderstadt, noch DGI-Präsident Dr. Gerhard Iglhaut aus. „Neben der Kariestherapie stellt die parodontologische Therapie den größten Behandlungsbedarf für den Zahnarzt dar. Es gibt kaum eine prothetische Versorgung, die nicht begleitend von einer PA-Therapie erfolgreich erledigt werden kann. Die demografische Entwicklung in Deutschland zwingt quasi jeden Kollegen vornehmlich in der Gruppe älterer Patienten Parotherapie zu betreiben, wenn er sich nicht angreifbar machen will“, sagt Ackermann. Allein das zeige, dass PA-Wissen und PA-Therapie von jedem Allgemeinzahnarzt auch beherrscht werden müssten. „Ich denke, mehr Unterricht zur Parodontologie und Parotherapie täte gut, vorausgesetzt, die Zeit während des Stu‧diums ist im Lehrplan einrichtbar“.
Die Greifswalder Studie halten beide jedenfalls nicht für repräsentativ. Iglhaut: „Zum einen wurden nur Zahnärzte aus einer begrenzten Region einbezogen, zum anderen lag der untersuchte Zeitraum in den Jahren 1996–1997. Seitdem habe es enorme Weiterentwicklungen gegeben.
In einem aber sind sich alle Experten einig: Der geplante gemeinsame Kongress der jungen Gruppen der DGI und DG PARO auf dem DG-PARO-Frühjahrskongress 2015 ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hebt er das Fach Parodontologie? Es wäre vermessen zu behaupten, der Kongress könne das Fach Parodontologie als solches heben, sagt Dr. Kathrin Becker, Mitglied des DGI-Komitees Nexte Generation. Der Kongress deute jedoch an, wie wichtig es ist, dass beide Disziplinen eng zusammenarbeiten. „Die Frühjahrstagung führt nur zusammen, was ohnehin zusammengehört“, meint Kebschull. Die Implantologie sei schließlich kein eigenes Fach, sondern eine Methode. Und diese sei weltweit fast überall, außer in Deutschland, ein Teilgebiet der Parodontologie, so zum Beispiel in den USA.
Auch Iglhaut sieht keine Distanz zwischen der Implantologie und der Parodontologie. „Die Implantologie ist ein Querschnittsfach mit einer oralchirurgischen, parodontologischen und prothetischen Komponente. Deshalb würde ich mich auch nie als Implantologe bezeichnen. Ich bin Fachzahnarzt für Oralchirurgie, Spezialist der Parodontologie und habe einen Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie.“ Und Ackermann fügt an: „Nur wer Parodontologie versteht, wird auch die richtige Therapieentscheidung – parodontal therapeutischer Zahnerhalt vs. implantatprothetischer Zahnersatz – treffen. Es heißt ja nicht umsonst Perio-Prothetik oder Perio-Implantat-Prothetik. Die Schranken in den Köpfen müssten fallen. Vielleicht schaffen das ja am ehesten die jüngeren Kollegen.“