DGI Sommer-Symposium in Kassel

Ein Blick auf die Leitplanken

„Eine Leitlinie steht nicht für Innovation, sondern sie ist nur eine Bewertung des Bestehenden.“ Dass diese für die zahlreichen Implantologen in Deutschland dennoch maßgebend sind, betonte Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden auf dem Sommersymposium der Fachgesellschaft in Kassel nachdrücklich.



Vorgestellt wurden in Kassel acht dieser Leitlinien für die Implantologie, maßgeblich mitgestaltet von der DGI. Was die nach einem demokratischen Einladungsprinzip zusammengestellten Leitliniengruppen bislang konsentiert hatten, wurde von den Referenten vorgestellt – allesamt sind diese auch Mitglieder der Leitliniengruppen.

Leitlinien beschreiben einen Korridor möglicher Therapieentscheidungen, in dem Zahnärzte sich sicher bewegen können. Die Definition dieses Korridors besteht aus konsentiertem weltweiten Wissen, das in Studien nachgewiesen wurde. Ist dieses Wissen noch unvollständig oder widersprüchlich, muss aber trotzdem eine Therapieentscheidung gefällt werden, greifen die Leitlinien auch auf die Erfahrungen und das Wissen aus der Praxis und nicht zuletzt auf die Wünsche und Vorstellungen der Patienten zurück.

Achtung: Juristische Falle

Zum Einstieg warnte Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz vor einer juristischen Falle: Beim Scheitern einer Implantatversorgung seien Leitlinien nicht justiziabel. Grötz: „Allerdings stärken sie die Rolle der Implantologen: Es wird immer vorausgesetzt, dass es in der Hand des Behandlers liegt, was zu tun ist.“ Zahnärzte dürfen also, vor allem bei begründeten Patientenfällen, von einer Leitlinie abweichen. Derzeit sei es bei gerichtlichen Verfahren gesetzt, bei jedem Fall immer einen Sachverständigen zu Rate zu ziehen.

Dr. Jaana-Sophia Kern, Implantologin von der Universität Aachen und Mitglied der Leitlinienkommission zur implantatprothetischen Versorgung des zahnlosen Oberkiefers, stellte dar, dass gerade beim zahnlosen Oberkiefer eine umfassende Planung im Sinne des Backward Planning erfolgen sollte. Dazu biete sich eine vorhandene Prothese oder eine laborgefertigte Zahnaufstellung an. Die weiteren Empfehlungen: Weniger als vier Implantate sollten im zahnlosen OK nicht geplant werden; vier Implantate sollten herausnehmbar versorgt werden, da aufgrund fehlender Langzeitdaten derzeit keine Empfehlung für festsitzende Versorgungen gegeben werden kann; fünf, sechs und auch mehr Implantate dagegen können herausnehmbar oder festsitzend versorgt werden. Für mehr als sechs Implantate gilt zudem: Falls festsitzend versorgt wird, können ein- oder mehrteilige Restaurationen verwendet werden, die verschraubt oder zementiert werden können.

Provisorium vor der definitiven Versorgung

Zudem sollte eine gleichmäßige anterior/posteriore Implantatverteilung im Sinne eines möglichst großen Unterstützungspolygons im Bereich des Zahnersatzes angestrebt werden. Bei aufwändiger, insbesondere festsitzendender Suprakonstruktion wird empfohlen, vor der definitiven Versorgung eine provisorische der gleichen Art einzugliedern.

Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas stellte die Indikationen für die Verwendung von Knochenersatzmaterial vor – und räumte ein, dass klare Hinweise für die Handhabung in der Praxis aus der Literatur nur schwierig zu erstellen seien. Zwar seien aufgrund der Vielzahl der verfügbaren Materialien Analogschlüsse auf der Basis verfügbarer Daten und bekannter Eigenschaften denkbar. Um klarere Aussagen treffen zu können, sei aber grundsätzlich eine klinische Dokumentation eines KEM zu fordern und dem Anwender zur Verfügung zu stellen. Bei der crestalen Augmentation sei ein Gewinn an Dimension zu verzeichnen: lateral 3,6 bis 5,6 mm nach sechs Monaten, vertikal zwischen 2,0 und 5,6 mm im gleichen Zeitraum. Beim Implantatüberleben (simultan oder verzögert inseriert) zeigten sich Erfolgsraten nach 64 Monaten zwischen 67 und 100 Prozent. Der crestale Knochenverlust betrug zwischen 0,3 und 1,9 mm nach 6 bis 12 Monaten. Allerdings kam hier überwiegend zweidimensionale Röntgendiagnostik zum Einsatz, was eine eingeschränkte Aussagekraft bedeutet.

Lokale Infekte und Pathologien

Lokale Infekte und Pathologien gelten ebenso wie kritische Durchblutungsverhältnisse als Risikofaktoren. Beim horizontalen Defekt (Dehiszenz-Typ) ist die Augmentation mit unterschiedlichen Materialien bei simultaner oder zweizeitiger Insertion gut beschrieben. Die Stabilisierung des Augmentationsvolumens durch Membran-Einsatz ist ebenso als sinnvoll beschrieben. Bei einwandigen Defekten ist eine Rekonstruktion alleine mit KEM nicht aussagekräftig belegt. Als verlässliche Prozedur gilt ein autogener Knochenblock. Mit zunehmender Defektgröße wird ein zweizeitiges Vorgehen favorisiert. Die Wertigkeit von KEM bei vertikalen Alveolarkammdefekten ist nur unzureichend dokumentiert, wie Al-Nawas betonte. Der Grund: Es sind höhere Komplikationsraten als bei horizontalen Defekten zu verzeichnen.

Beim Sinuslift (intern und extern) können autogener Knochen oder KEM verwendet werden – beides zeigte keine Unterschiede in den Erfolgsraten. Der individuelle Einsatz der Augmentationstechnik sollte vor allem von der Wertigkeit des vorhandenen crestalen Knochens abhängig gemacht werden.

Keine Leitlinie für 3D-Röntgendiagnostik

Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang erläuterte zunächst, dass eine Leitlinie zu den Indikationen für eine implantologische 3D-Röntgendiagnostik und eine navigationsgesteuerte Implantologie nicht zustande gekommen sei: Die vorliegende Literatur habe dies nicht zugelassen. Erstellt wurde daher eine S2k-DGI-Leitlinie, in der die 3D-Röntgendiagnostik zur Unterstützung minimalinvasiver Techniken der Insertion bei Patienten mit  besonderen Risiken (z.B. erhöhte Blutungsneigung), nach komplexen Kieferrekonstruktionen, bei schwierigen prothetischen Zielsetzungen und bei besonderen Konzepten (zum Beispiel Sofortversorgung mit präfabriziertem Zahnersatz) empfohlen wird.

Zudem stellte Wiltfang die Aussagen über Implantate bei Diabetes mellitus vor. Die steigende Prävalenz des Diabetes und die Verbreitung der Implantologie sorgen für eine entsprechend gestiegene Nachfrage. Dabei zeigte sich, dass Patienten mit schlecht eingestelltem Diabetes eine geringere Stabilität der Implantate in den ersten zwei bis sechs Wochen zeigen. In den folgenden Wochen dagegen erreicht die Stabilität jedoch wieder die Baseline – bei den schlecht eingestellten Patienten allerdings deutlich verlangsamt. Die Stabilität der Implantate ein Jahr nach der Insertion zeigte keine Unterschiede in den Patientengruppen.

Leitlinienarbeit zu periimplantären Infektionen

Die Leitlinienarbeit zu periimplantären Infektionen am Zahnimplantat stellte DGI-Präsident Prof. Dr. Frank Schwarz vor. Dabei hob Schwarz heraus, dass auch unter Kostengesichtspunkten die Prävention einer Periimplantitis durch eine frühzeitige Therapie der periimplantären Mukositis deutlich sinnvoller und damit auch angeraten sei. Bei der nichtchirurgischen Therapie der Mukositis biete sich die regelmäßige professionelle mechanische Plaqueentfernung an, kombiniert mit einer Optimierung der häuslichen Mundhygiene. Die Verwendung adjuvanter Maßnahmen (Mundspüllösungen, lokale Antibiotika) verbessere den Outcome nicht. Da die Mukositis nicht bei allen Patienten vollständig abheilbar ist, sollten regelmäßige Nachkontrollen (z. B. alle drei Monate) durchgeführt werden. Vor dem Therapiebeginn sollten systemische und lokale Risikofaktoren identifiziert werden. Außerdem sollten weitere Faktoren (fehlerhafter Sitz, mangelnde Präzision von Sekundärteilen, Fehlpositionierungen etc.) berücksichtigt werden.

Bei der nichtchirurgischen Periimplantitistherapie allerdings sollten adjuvante oder alternative Maßnahmen ergriffen werden. Eine Evidenz liegt dazu vor für Er:YAG-Laser, Glycin-gestützte Air-Polishings und lokale Antibiotika sowie für CHX-Chips und die antimikrobielle Photodynamische Therapie.

Kombination von mechanischen und chemischen Verfahren

Kommt es zur chirurgischen Intervention, soll zunächst das Granulationsgewebe vollständig entfernt werden. Besonders die Dekontamination der Implantatoberfläche sei zu beachten. Derzeit werden dazu mechanische und chemische Verfahren kombiniert. Begleitet werden sollte die chirurgische Therapie durch eine unterstützende One-shot-Gabe zur Antibiotikaprophylaxe. Nach der Dekontamination sollten augmentative Verfahren zu einer radiologisch nachweisbaren Auffüllung intraossärer Defektkomponenten führen. Zu beachten ist, dass bei allen chirurgischen Therapieansätzen ein hohes Risiko für postoperative mukosale Rezessionen besteht.

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz beschrieb die Problematik bei Implantatpatienten mit medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva. Hierzu gibt es eine S2k-Leitlinie. Patienten unter oder nach einer antiresorptiven Therapie müssen bei Implantat-Indikation zunächst auf ihr individuelles Osteonekrose-Risiko evaluiert werden. Diese Osteonekrose kann als Folge einer Implantatkomplikation auftreten. Ist das Risiko gering, besteht zudem eine gute onkologische Prognose, gibt es keine Infektionsherde und klinisch keine scharfen Knochenkanten und radiologisch keine persistierenden Alveolen und ist die Compliance gut, spreche alles für ein Implantat. Gegen ein Implantat spricht, wenn diese Fragen gegenteilig beantwortet werden müssen und wenn zudem gleichwertiger konventioneller prothetischer Ersatz geschaffen werden kann sowie bei einer Notwendigkeit zur Augmentation.

Strukturerhalt nach Extraktion

Über den Strukturerhalt des Alveolarfortsatzes nach Extraktion sprach PD Dr. Dietmar Weng. Dabei gehe es um die Verminderung der Kammresorption durch Einbringung von Augmentationsmaterial – also zur Verbesserung der Implantationsbedingungen. Empfohlen wird die Alveolarauffüllung zur Resorptionsverminderung. Dabei seien, so betonte Weng, Material, Technik, Defektart, Entzündungsgrad und Lokalisation nur schwierig differenzierbar. Weng gehört nicht zu den Skeptikern, die befürchten, dass es zu einer Materialeinbringung in eine infizierte Alveole kommt. Dies lasse sich durch eine professionelle Bearbeitung und Behandlung der Alveole verhindern.

Abschließend stellte der Organisator des Sommersymposiums, Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden, das Thema der Nichtanlagen vor. Es handelt sich um die häufigste Fehlbildung bei Menschen: 5 Prozent der Bevölkerung hat eine Zahnaplasie. Und gerade bei Kindern wirft dies eine Menge Fragen auf. So wird bei multiplen Nichtanlagen geraten, vor einer Implantation eine KFO-Therapie vorzuschalten. Damit kann die Zahl der später prothetisch zu ersetzenden Zähne reduziert werden.

Erhaltung des Milchzahns

Ein weiterer Weg, etwa den Alveolarfortsatz  zu erhalten, ist die Erhaltung des Milchzahns. Diese kann zu einer langen Verweildauer führen und zuweilen bis ins implantationsfähige Alter halten, so dass eine temporäre Erhaltung bis zur Implantationsfähigkeit möglich ist. Bei Milchzahnankylosen kann eine rechtzeitige Entfernung des persistierenden Milchzahns deshalb sinnvoll sein, um eine Wachstumshemmung zu verhindern. Die Implantation, so betonte Terheyden, könne bereits im Wachstum und in Wechselgebissen durchgeführt werden. Dennoch rät Terheyden, bei Kindern, bei denen die Möglichkeit der Steuerung des Zahnwechsels besteht, auch einen kieferorthopädischen Lückenschluss zu erwägen.

Implantationsversorgungen vor dem 12. Lebensjahr sollten nur in Ausnahmefällen erfolgen. Der Grund: Hier gibt es im Vergleich zur Erwachsenenversorgung eine deutlich eingeschränkte Prognose. Wird doch implantiert, sollte nur eine begrenzte Anzahl an Implantaten unter Berücksichtigung der physiologischen Kiefer- und Gebissentwicklung inseriert werden.