Mundgesundheit in Europa #Episode 2

Die private Einzelpraxis ist das Praxismodell in Europa

Nun starten bald wieder die Wintersemester. Viele junge Menschen haben sich hierzulande für das Studium der Zahnmedizin eingeschrieben. Einige starten im Ausland ihre zahnmedizinische Laufbahn. Ein guter Zeitpunkt, um über Deutschland hinaus zu blicken. Wie sieht es in Europa aus mit Ausbildung und der selbstständigen oder angestellten Berufsausübung in der Stadt oder auf dem Land? Die Antworten von Dr. Juliane Winkelmann, Berlin/Brüssel, basieren auf den wissenschaftlich fundierten Daten aus den aktuellen Studien des European Observatory on Health System and Policies in Brüssel.


Bild: stock.adobe.com/jpgon


Hierzulande wird Zahnmedizin ausschließlich an staatlichen Universitäten gelehrt. Wie sieht es mit den Ausbildungssystemen im restlichen Europa aus? Ist die zahnmedizinische Ausbildung eher eine staatliche Aufgabe oder erfolgt sie in privaten Universitäten?
Dr. Juliane Winkelmann (JW): Die zahnmedizinische Ausbildung, die es Absolventen ermöglicht, sich als Zahnarzt zu registrieren, umfasst je nach Land eine Studiendauer von fünf bis sechs Jahren. Danach können verschiedene Spezialisierungen wie Oralchirurgie, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Prothetik, Kieferorthopädie, Parodontologie, Endodontie, Kinderzahnheilkunde und weitere in einer postgradualen Ausbildung erworben werden.
Während viele Länder – hauptsächlich nördliche und westliche EU-Länder – nur eine zahnmedizinische Grundausbildung von öffentlichen Universitäten anerkennen, haben sich Länder wie Polen, Ungarn, baltische Länder, Portugal und Spanien dazu entschieden, ebenfalls privaten Universitäten zu erlauben diese geschützten Titel zu verleihen. Diese Entscheidung beruht vermutlich zum einen auf der Zunahme der zahnärztlichen Versorgung von Patienten aus dem Ausland und zum anderen auf dem Ziel, die Migration von lokalen Zahnärzten zu kompensieren. Einige dieser privaten Universitäten bieten Programme in englischer Sprache an, um EU-Ausländern Zugang zu einem (zahn-)medizinischen Studium zu ermöglichen.

Wie haben sich die Ausbildungszahlen in Deutschland in den vergangenen Jahren entwickelt? Und wie sieht es im Verhältnis dazu in anderen europäischen Ländern aus?
JW: Ausbildungszahlen haben wir in unseren Studien nicht separat betrachtet, jedoch die Zahlen von Zahnärzten.
In vielen Ländern ist die Anzahl der Zahnärzte stark gestiegen, was vor allem auf die Privatisierung der zahnärztlichen Versorgung und die grenzüberschreitende zahnärztliche Versorgung zurückzuführen ist. Die europäischen Länder haben unterschiedliche zahnärztliche Ausbildungssysteme und damit auch unterschiedliche Zahlen an Absolventen. Dies wiederum wirkt sich auch auf die Abwanderung von Zahnärzten aus.

Arbeiten Zahnärzte in Europa eher selbstständig in der eigenen Praxis oder eher als Angestellte?
JW: In fast allen europäischen Ländern erfolgt die zahnärztliche Versorgung überwiegend durch Zahnärzte, die in privaten Einzelpraxen arbeiten.
In 22 von 30 europäischen Ländern waren über 80 % der Zahnärzte einer Umfrage zufolge in Privatpraxen tätig. Jedoch gibt es in den meisten Ländern auch direkt beim Staat angestellte Zahnärzte, die in der öffentlich finanzierten Mundgesundheitsversorgung arbeiten.
Die zahnärztliche Versorgung unterlag in den letzten Jahrzehnten insbesondere in den neuen EU-Mitgliedstaaten deutlichen Veränderungen. Bis 1989/1990 wurde die zahnärztliche Versorgung in den neuen EU-Mitgliedstaaten weitgehend kostenlos in staatlichen Kliniken erbracht und fast alle Zahnärzte waren Angestellte des Staates.
Nach Auflösung der ehemaligen Sowjetunion gehörte die Zahnmedizin zu den öffentlichen Diensten, die eine sehr schnelle Privatisierung erlebten. Folglich unterscheidet sich die Besitzform von Zahnarztpraxen heute nicht mehr zwischen ost- und westeuropäischen Ländern.

Investorengetragene Praxisketten werden hierzulande kritisch diskutiert. Wie sieht die Entwicklung in Europa aus?
JW: Das Wachstum von investorengetragenen Praxisketten in der Zahnheilkunde stellt in den meisten europäischen Ländern eine wichtige Entwicklung dar, insbesondere in den skandinavischen Ländern, der Schweiz, Großbritannien, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien und in Deutschland.
Heute existiert ein großes Netzwerk von investorengetragenen Praxisketten in ganz Europa, getrieben durch ein zunehmendes Interesse an Rendite der Investition in diese Organisationen.
Insgesamt ist der Anteil der von investorengetragenen Praxisketten in den meisten europäischen Ländern noch relativ klein, wächst aber, wobei Praxisketten Einzelpraxen und kleinere Gruppenpraxen erwerben.

Gibt es europäische Länder, in denen sie schon etabliert sind?
JW: Der größte Markt an Dentalgruppen existiert in Finnland mit einem Marktanteil von 35 % im Jahr 2015.
In Spanien und Großbritannien machen Praxisketten etwa ein Viertel der Zahnarztpraxen aus, bezogen auf die Zahl der Zahnärzte. Großbritannien hat die größte Zahnarztkette „My Dentistant“, die über 600 Praxen umfasst.
In den Niederlanden, Dänemark und Italien haben Praxisketten einen deutlich geringeren Marktanteil (10 %, 7 % bzw. 3 %).
In den meisten europäischen Ländern zwingt der zunehmend wettbewerbsorientierte Markt viele regionale Praxen zur Fusion, um Kosten zu senken und profitabel zu bleiben.

…und wie wird diese Entwicklung bewertet?
JW: Der Council of European Dentists (CED) hat Bedenken über diese Entwicklung geäußert, insbesondere in Bezug auf Versorgungsqualität, Patientensicherheit und Arbeitsbedingungen.
Kritiker fürchten zudem Monopolisierung und weitere Kommerzialisierung zahnärztlicher Leistungen mit negativen Folgen für Wahl und Zugang der Patienten sowie für die Kontinuität der zahnärztlichen Versorgung.

Zurzeit wird in Deutschland der (Zahn-)Arztmangel in ländlichen Regionen thematisiert, auch ein Thema im übrigen Europa?
JW: Während sich die Dichte von Zahnärzten pro Bevölkerung zwischen europäischen Ländern um ein Dreifaches unterscheidet, ist die geografische Ungleichverteilung innerhalb der Länder noch größer, da viele Zahnärzte in städtischen Gebieten praktizieren und 
leben.
Die Ungleichverteilung in Österreich, Frankreich, und Polen steht beispielhaft für die Konzentration von Zahnärzten in städtischen Gebieten. In Wien arbeiten etwa ein Drittel aller Zahnärzte des Landes, wobei die Stadt etwa nur ein Fünftel der Bevölkerung umfasst. Ähnlich ist die Situation in Frankreich. Dort arbeitet ein Drittel aller Zahnärzte in Paris, obwohl die Stadt nur zirka 18 % der französischen Bevölkerung umfasst.
Auch in Polen gibt es starke Unterschiede der Zahnarztdichte zwischen den Regionen, unter anderem aufgrund der grenzüberschreitenden zahnärztlichen Versorgung. In den Grenzregionen zu Deutschland ist die Zahnarztdichte teilweise sechsmal höher als in Zentralpolen.

Welche Folgen hat diese ungleiche Verteilung auf die zahnärztliche Versorgung?
JW: Die ungleiche Verteilung wirkt sich insbesondere auch auf den Zugang zur Versorgung in ländlichen Gebieten aus, wo Patienten mit längeren Reise- und Wartezeiten konfrontiert sind.
Mehrere Länder, darunter Frankreich, Tschechien, Rumänien und Bulgarien haben daher Maßnahmen ergriffen, die darauf zielen die Zahl der Zahnärzte in ländlichen Gebieten zu erhöhen. Frankreich hat zirka 400 Millionen Euro zur Finanzierung bestehender und neuer Zahnarztpraxen im ländlichen Raum veranschlagt. Tschechien stellt ebenfalls bis zu 3,9 Millionen Euro an Zuschüssen zur Ausweitung der Versorgung in ländlichen Gebieten bereit.

Wir leben in einer überalternden Gesellschaft. Gilt das auch für die Zahnärzteschaft?
JW: Wie in der Allgemeinmedizin stellt die Alterung der Ärzte auch in der Zahnmedizin mittel- und langfristig in vielen Ländern ein Problem für die Versorgung dar.
In Europa sieht die Situation sehr unterschiedlich aus. Während einige Länder günstige Ersatzraten haben, da sie relativ viele junge Zahnärzte haben, haben andere europäische Länder negative Ersatzquoten, da eine beträchtliche Zahl von Zahnärzten in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden.
So liegt das Durchschnittsalter von Zahnärzten in Frankreich, Italien und Deutschland relativ hoch, bei 48 Jahren.
In Spanien beträgt das Durchschnittsalter zirka 41 Jahre und nur einer von vier Zahnärzten ist über 55 Jahre alt. Auch in England sind nur 22,6 % der Zahnärzte über 55 Jahre alt, was teilweise mit einem hohen Anteil an im Ausland ausgebildeten Zahnärzten zusammenhängt. Polen prognostiziert einen Anstieg der Zahl von Zahnärzten um zirka 18 % in den nächsten zwanzig Jahren.

Herzlichen Dank für das hoch informative Gespräch, Frau
 Dr. Winkelmann.

Noch mehr Informationen über das Thema zahnmedizinische Versorgung in Europa:
Eine Studie von Henschke et al. (2022) vergleicht die Mundgesundheit und die zahnmedizinische Versorgung in fünf europäischen Ländern: Belgien, Dänemark, Deutschland, den Niederlanden und Spanien.
https://www.idz.institute/publikationen/online-journal-zahnmedizin-forschung-und-versorgung/best-oral-health-practice-in-europe/


Foto: privat

Dr. Juliane Winkelmann
Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die vergleichende Gesundheits­system­forschung,
zahnmedizinische Versorgung, globale Gesundheit, das Gesundheits­personal sowie Skill Mix
und neue Versorgungsformen. In diesen Fachgebieten arbeitet sie hauptsächlich für das
European Observatory on Health Systems and Policies in Brüssel.
Neue Studien zu zahnmedizinischer Versorgung in Europa (2022):
Oral health care in Europe: 
Financing, access and provision