Risiko Scheinselbstständigkeit

Keine Sozialversicherungsfreiheit für Praxisvertreter

Urlaub, Krankheit, Fortbildung: Die Gründe, warum Zahnärzte sich in ihren Praxen vertreten lassen müssen, sind vielfältig. Anders als andere Freiberufler oder Selbstständige können Zahnärzte aber nicht einfach ihre Praxis schließen, sondern sie müssen für die Sprechstunden eine Vertretung organisieren. Dies kann eine Vertretung in der Umgebung sein; die Patienten suchen also in der Zeit der Abwesenheit der Zahnärzte die Praxis eines Kollegen oder einer Kollegin auf. Gerade bei Berufsausübungsgemeinschaften ist es jedoch oftmals angenehmer, wenn die Vertretung innerhalb der Praxisräume stattfindet. Sie kann entweder durch Niedergelassene, durch Zahnärzte im Ruhestand oder sonstige externe Zahnärzte erfolgen.



Ob eine solche Vertretung im Einzelfall zulässig ist, bestimmt sich nach den vertragsarztrechtlichen Regelungen, insbesondere § 32 ff. ZahnärzteZV. Doch Zahnärzte sollten in Vertretungssituationen nicht nur das Vertragsarztrecht in den Blick nehmen, sondern insbesondere auch das Sozialversicherungsrecht. Denn der Gesundheitssektor ist in den letzten Jahren zusehends in den Fokus der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) geraten. Ärzte- und Fachkräftemangel führten dazu, dass insbesondere Krankenhäuser bis vor einigen Jahren vermehrt auf Honorarkräfte gesetzt haben, was, wie mittlerweile bekannt sein dürfte, kein von den Sozialgerichten akzeptiertes Modell mehr ist. So entschied das Bundessozialgericht (BSG) im Jahr 2019, dass sogenannte Honorarärzte und -pfleger stets in die Organisation des Krankenhauses eingegliedert und weisungsgebunden seien, damit der Sozialversicherungspflicht unterlägen und daher die von der DRV erhobenen Rückforderungen und Säumniszuschläge in erheblicher Höhe gerechtfertigt seien. Vergleichbare Fragen stellen sich nunmehr seit einigen Jahren auch bei der Vertretung von Zahnärzten, insbesondere in Berufsausübungsgemeinschaften und Gemeinschaftspraxen. Denn anders als in einer Einzelpraxis sind hier in der Regel während der Vertretung eines Praxisinhabers noch weitere Gesellschafter als Praxisinhaber tätig, sodass sich die Vertretungstätigkeit oftmals auf die rein fachliche Vertretung reduziert. Dann stellt sich aber die Frage, ob tatsächlich noch eine freiberufliche Tätigkeit vorliegt.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts
Genau diese Frage hatte ein am 19.10.2021 verhandeltes Verfahren vor dem BSG zum Gegenstand. Diesem lag ein durchaus üblicher Sachverhalt zu Grunde. Geklagt hatten eine gastroenterologische Gemeinschaftspraxis und eine in einem Krankenhaus angestellte Oberärztin. Letztere übernahm nach Absprache im Einzelfall die Vertretung eines Gesellschafters der Gemeinschaftspraxis, wenn dieser wegen Urlaubs oder Krankheit seine Tätigkeit nicht ausüben konnte. Sie führte dabei u.a. endoskopische Untersuchungen durch, schrieb Befundberichte und gab Therapieempfehlungen. Vergütet wurde sie je Einsatzstunde. Die beiden Kläger baten die DRV im Rahmen des sogenannten Statusfeststellungsverfahrens um die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status der Ärztin, ob diese also als abhängig beschäftigt oder aber als freiberuflich tätig einzuordnen sei. Die DRV prüfte den Sachverhalt und stellte fest, dass die Ärztin im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses tätig sei. Es bestehe daher sowohl Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung als auch in der Arbeitslosenversicherung.

Nachdem zunächst das Sozialgericht Frankfurt diesen Bescheid aufgehoben hatte und feststellte, dass die Vertretungstätigkeit gerade nicht als sozial versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt werde, da die Ärztin bei den Untersuchungen keinerlei Weisungen, sondern lediglich fachspezifischen Standards unterlegen habe, wandte sich die DRV direkt an das BSG und rügte, dass die Ärztin weisungsgebunden in eine fremde Praxisorganisation eingebunden und deshalb abhängig beschäftigt gewesen sei. Schließlich habe sie Räumlichkeiten, Geräte und Personal der Gemeinschaftspraxis genutzt sowie ihr zugewiesene Patienten behandelt. Auch aus der Stellung als Arztvertreterin folge keine Selbstständigkeit, weil die Ärztin keine Arbeitgeberfunktion an Stelle eines Praxisinhabers wahrgenommen habe.
Tatsächlich entschied das BSG sodann zugunsten der DRV und stellte fest, dass die Ärztin ihre Vertretungstätigkeit in der Gemeinschaftspraxis im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung ausübe. Sie sei, anders als zunächst vom Sozialgericht Frankfurt angenommen, insbesondere hinsichtlich der Zuweisung bestimmter Patienten weisungsgebunden.

Aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem Praxispersonal und der kostenfreien Nutzung von Einrichtungen und Mitteln der Gemeinschaftspraxis sei sie auch in deren Arbeitsabläufe eingegliedert. Die Tatsache, dass die Ärztin ausschließlich in einer Vertretungssituation tätig geworden sei, ändere daran nichts. Zwar könne es durchaus der Eingliederung in einen fremden „Arztbetrieb“  entgegenstehen, wenn ein Arztvertreter für die Dauer seiner Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnimmt und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfüllt. Das war hier aber nicht der Fall, da die Ärztin lediglich die ärztlichen Leistungen erbracht und keine Vertretung der Mitglieder der Gemeinschaftspraxis als Arbeitgeber geleistet habe. Es sei für die Einordnung, dass eine abhängige Beschäftigung vorliege dabei im Übrigen völlig unerheblich, dass mit der gewählten Ausgestaltung der ärztlichen Vertretung berufszulassungsrechtlichen Anforderungen Genüge
getan wird.

Praxishinweise
Das Risiko für Zahnärzte in Berufsausübungsgemeinschaften ist nicht unerheblich. Bei einer nachträglichen Aufdeckung von „Scheinselbstständigkeit“ im Rahmen einer Betriebsprüfung tragen Arbeitgeber sowohl ein strafrechtliches als auch ein erhebliches wirtschaftliches Risiko. So sind sie für die Zahlung der nicht abgeführten Beiträge rückwirkend bis zu vier Jahre, bei Vorsatz sogar bis zu 30 Jahre verantwortlich. Sie haben dabei sowohl den Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil zu tragen.

Überdies gilt das im Rahmen des Auftrags gezahlte Entgelt (Werklohn, Dienstlohn) als Nettoarbeitsentgelt. Dies bedeutet, dass die auf den Nettobetrag entfallende Lohnsteuer sowie die Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitnehmers hochzurechnen sind. Schließlich sind noch für jeden angefangenen Monat der Säumnis kraft Gesetzes Säumniszuschläge von 1 % des rückständigen Betrags zu zahlen. Es droht daher ein bis zu verfünffachtes Beitragsrisiko.

Doch es kommt noch härter. Die fehlerhafte Einordnung von Scheinselbständigen kann auch strafrechtliche Sanktionen
nach sich ziehen. Denn das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen kann nach § 266a StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe belegt werden. In besonders schweren Fällen beträgt die Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahre.
Noch liegen die Entscheidungsgründe des BSG nicht vor, der Tenor der Pressemitteilung und des zusammenfassenden Terminsberichts sind aber eindeutig.

Das BSG bestätigt die Auffassung der DRV, dass bei dem, der dem zu entscheidenden Fall zugrunde liegt, Sachverhalt eine Eingliederung in einen fremden (ärztlichen) Betrieb und damit eine abhängige Beschäftigung vorliege.
Ein Schlupfloch bleibt nur dann, wenn die zahnärztlichen Vertreter für die Dauer ihrer Tätigkeit die Stelle der Praxisinhaber einnehmen und Arbeitgeberfunktionen erfüllen. Es bleibt abzuwarten, ob das BSG dies in den Urteilsgründen konkretisiert. Eine solche Konstellation dürfte jedoch die Ausnahme und wenig praktikabel sein; wenn man sie wählt, sollte dies sorgfältig vorbereitet werden. Wer dies nicht sicherstellen kann, sich zukünftig aber dennoch dazu entscheidet, externe Ärzte zur Vertretung in einer BAG einzusetzen, sollte mit dem Gedanken spielen, diese entweder im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung einzusetzen, oder sie ansonsten für den Vertretungszeitraum anzustellen. In letzterem Fall sollte man in Betracht ziehen, den Vertrag zivilrechtlich als freien Dienstvertrag auszugestalten, sozialrechtlich aber als abhängiges Beschäftigungsverhältnis.

Denn Arbeitsverhältnis und abhängiges Beschäftigungsverhältnis sind nicht zwangsläufig deckungsgleich und die Arbeitsgerichte beurteilen oftmals vergleichbare Fälle diametral zur sozialgerichtlichen Rechtsprechung. Was sozialrechtlich als abhängige Beschäftigung
gilt, kann arbeitsrechtlich als freie Mitarbeit eingeordnet werden. Dann bleibt es zwar bei der Sozialversicherungspflicht, Beiträge sind also abzuführen, doch die arbeitsrechtlichen Besonderheiten wie beispielsweise Kündigungsschutz, bezahlter Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entfallen. Für Vertretungen in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) hatte das LSG Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 07.02.2020 – L 9 BA 92/18) bereits ähnlich entschieden und ausgeführt, dass ein ausschließlich zeitlich befristet als Vertretungsarzt im MVZ tätiger Arzt, der einbestellte Patienten behandelt (Echokardiographien durchführt) und in die vom MVZ bereitgestellte Infrastruktur organisatorisch, personell und sachlich vollständig eingebunden ist sowie nach Stunden bezahlt wird, als Beschäftigter der Versicherungspflicht unterliegt.

 

DR. JANNIS KAMANN
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeits- und Medizinrecht, Partner der Sozietät michels.pmks Rechtsanwälte, Köln
kamann@michelspmks.de
Foto: privat