Im Ernstfall richtig handeln

Notfälle in der Zahnarztpraxis: Bloss keine Panik!

„Echte“ Notfälle sind selten, doch sollten Zahnarzt und Team auf dem Laufenden bleiben, um in der Lage zu sein, im Ernstfall richtig zu handeln.



Richtige“ Notfallsituationen haben in der Zahnarztpraxis eher Seltenheitswert. Eine Umfrage unter 6200 Zahnärztinnen und Zahnärzten, die 1998 in Baden-Württemberg durchgeführt wurde, ergab, dass pro Praxis und Jahr etwa 0,2 schwere Zwischenfälle auftraten. Als schwere Zwischenfälle wurden Fälle klassifiziert, die eine Krankenhauseinweisung und eine stationäre Aufnahme erforderlich machen. Gerade weil Notfälle relativ selten in der Zahnarztpraxis auftreten, denken viele Vertreter der Zahnmedizin, dass es sie „schon nicht treffen werde“. Eine unzureichende Vorbereitung ist oft die Konsequenz, die im Ernstfall Überforderung und Hilflosigkeit hervorruft, was medizinische und juristische Folgen haben kann.

Notfall vermeiden

Damit es möglichst erst gar nicht zu einem Notfall kommen kann, sollten einige Vorkehrungen getroffen werden, die die Wahrscheinlichkeit einer Notfallsituation minimieren. „Da die Mehrzahl aller Notfälle durch bestehende Vorerkrankungen und nicht durch den Zahnarzt direkt ausgelöst wird, sind das Erkennen von Risikopatienten anhand einer sorgfältigen Anamnese und das standardmäßige Schaffen einer möglichst ‚angst- und schmerzfreien Atmosphäre‘ mit die wichtigsten Maßnahmen“, sagt Dr. Sönke Müller. Der Internist und Notfallmediziner bietet regelmäßig Notfallseminare für Zahnärzte an.

Anamnese

Die Anamnese ist vom behandelnden Zahnarzt mindestens mündlich im direkten Gespräch durchzuführen. Die Erstaufnahme muss daraufhin schriftlich dokumentiert werden. Diesen Prozess können standardisierte Fragebögen erleichtern, die dem Patienten vor der ersten Behandlung ausgehändigt werden. Hierbei ist zudem wichtig, dass der Zahnarzt Rückfragen über den Schweregrad und den Verlauf der Erkrankung stellt und bei unzureichender Auskunft des Patienten Rücksprache mit dessen behandelnden Ärzten hält. Ist dem Zahnarzt die Krankheitsgeschichte bekannt, können gegebenenfalls Vorkehrungen getroffen werden.

Notfall erkennen

Um den Notfall richtig einordnen zu können, muss der behandelnde Zahnarzt wissen, um was für eine Komplikation es sich beim Patienten handelt. „Notfälle in der zahnärztlichen Praxis sind insgesamt selten, statistisch gesehen wird sich aber jeder Zahnarzt im Laufe seines Berufslebens mehrmals mit ‚kleinen‘ und selten mit ‚großen‘ Notfällen konfrontiert sehen“, erklärt Müller. „Zu den häufigeren und meistens ‚kleinen‘ Notfällen gehören
•    orthostatische und vasovagale Reaktionen, ausgelöst durch Angst, Schmerz,
•    hypertone Entgleisungen bei bestehender Hypertonie,
•    Hypoglykämien bei bestehendem Diabetes mellitus,
•    milde, passagere Unverträglichkeitsreaktionen auf Lokalanästhetika oder deren Zusätze.

Seltenere und dann auch eher ‚größere‘ Notfälle können zum Beispiel sein
•    echte allergische Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock als Reaktion auf Lokalanästhetika oder andere Substanzen,
•    Angina-pectoris-Anfall, Herzinfarkt bei koronarer Herzkrankheit,
•    Atemnot infolge Aspiration, Bronchospastik, Asthma bronchiale,
•    Atemnot durch Herz-Kreislauf-Komplikationen, zum Beispiel durch ein akutes Lungenödem bei Herzinsuffizienz.“

Notfall behandeln

Ist der Notfall eingetreten, gilt zuallererst: Ruhe bewahren. „Es ist wichtig, zunächst das übrige Team auf die Notfallsituation aufmerksam zu machen, damit mehrere Personen für die weiteren Maßnahmen zur Verfügung stehen“, erklärt Mike Gottstein, Geschäftsführer von E.M.S menoTrain SE, Anbieter von spezialisierten Notfalltrainings für die Zahnarztpraxis. „Der Notfallkoffer und ein Telefon sollten dann von einem Teammitglied zum Patienten gebracht werden.“ Um die weitere Vorgehensweise zu bestimmen, muss zunächst der Zustand des Patienten beurteilt werden. „Dazu gehören die Überprüfung des Bewusstseins und die Kontrolle der Atmung in liegender Position auf dem Stuhl mit überstrecktem Kopf“, sagt Gottstein.

Eine Pulskontrolle sei bei der ersten Beurteilung nicht mehr nötig. Sie koste zu viel Zeit und könne zu Fehlinterpretationen führen. Hat der Patient keine Atmung mehr, verfügt auch nicht mehr über einen ausreichenden Puls und Kreislauf, ist umgehend mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung zu beginnen.

Solange der Patient ansprechbar ist, sollte er in einer aufrechten Position, mit dem Oberkörper hoch, gelagert werden. Ist der Patient bewusstlos und die Atmung vorhanden, muss er generell in die stabile Seitenlage gebracht werden, um ihn vor dem Ersticken zu bewahren.

Bewusstlosigkeit auf dem Behandlungsstuhl

„Wird der Patient auf dem Behandlungsstuhl bewusstlos, sollte er auf dem Stuhl in eine abgewandelte Form der stabilen Seitenlage gebracht werden, um sich so die Möglichkeiten der Behandlungseinheit zunutze zu machen.“ Dabei bringt man den Behandlungsstuhl zunächst in eine waagerechte Position, bei vielen Behandlungsstühlen kann man diese Lagerung als „Notfallposition“, „Schocklage“ o. Ä. einprogrammieren. Anschließend muss der Patient, der Absaugeinheit zugewandt, leicht auf die Seite gedreht werden. Damit der Patient stabiler liegt, kann man ihm eine Decke oder ein Kissen in den Rücken legen. Wichtig hierbei ist, dass der Kopf trotzdem überstreckt bleibt.

Herzdruckmassage

Atmet der Patient nicht mehr, ist eine Herzdruckmassage durchzuführen. Dazu sollte der Patient auf einer harten Unterlage liegen, am besten auf dem Fußboden. Gottstein: „Die Durchführung auf dem Behandlungsstuhl ist nicht zu empfehlen.“ Da der Patient sich schon in liegender Position befindet, wäre der Rettungsgriff mit einem enormen Kraftaufwand verbunden, da man unter anderem auch erst einmal hinter den Oberkörper gelangen muss.

Daher sollte der Stuhl jetzt so flach wie möglich heruntergefahren werden, damit der Patient anschließend seitlich vom Stuhl gehoben oder gezogen werden kann. Der Oberkörper muss danach möglichst vollständig entkleidet werden. Der Druckpunkt befindet sich in der Mitte des Brustkorbs auf dem Sternum. Ein Handballen wird auf den Druckpunkt gelegt und die andere Hand über die erste Hand. Nun wird der Brustkorb mit durchgestreckten Armen fünf bis sechs Zentimeter komprimiert.

„Die Frequenz des Drückens sollte bei 100 bis 120 Mal pro Minute liegen. Nach dreißig Thoraxkompressionen wird kurz pausiert, und es erfolgen zwei Beatmungen.“ Der Rhythmus 30:2 wird so lange beibehalten, bis der Rettungsdienst eintrifft oder der Patient sichtbare Lebenszeichen zeigt. „Eine Unterbrechung, um den Puls und die Atmung zu kontrollieren, so wie es früher üblich war, findet nicht mehr statt.“ Ebenso hat sich die Erkenntnis etabliert, dass auch eine alleinige Herzdruckmassage, d. h. eine Reanimation auch ohne jede Beatmungsmaßnahme, initial über mehrere Minuten durchgeführt werden kann, ohne dass sich die Überlebenschancen des Patienten verschlechtern.

Im Idealfall sollte im Team reanimiert werden: Während einer die Herzdruckmassage durchführt, kümmert sich der andere um die Beatmung. So kann man sich abwechseln, wenn mit der Zeit die Kraft zum Drücken nachlässt.

Verschlucken

Hat der Patient versehentlich etwas verschluckt, sollte erst einmal versucht werden, den Fremdkörper durch drei kräftige Schläge zwischen die Schulterblätter zu lösen. Sollte das keinen Erfolg bringen, ist als nächster Schritt der sogenannte „Heimlich-Griff“ anzuwenden. Gottstein: „Dazu stellt man sich hinter den Patienten, ‚umarmt‘ ihn und drückt dann mit seinen Fäusten mit viel Kraft in die Magengrube. Wenn dieses Manöver keinen Erfolg gebracht hat, ist die letzte Möglichkeit eine Beatmung.“ Durch eine Beatmung kann der Fremdkörper unter Umständen in eine Lungenseite gedrückt werden, sodass der andere Lungenflügel für die Atmung wieder zur Verfügung steht.

Notfall melden

Bei einer Störung der Vitalfunktionen muss ein Notruf abgesetzt werden. Hier lautet die Devise: Lieber einmal zu viel den Notruf alarmieren als einmal zu wenig. Bundeseinheitlich lautet die Rufnummer 112. Sie sollte gut sichtbar am Telefon angebracht sein. Beim Absetzen des Notrufs ist es wichtig, ruhig und deutlich zu verstehen zu geben:
•    WAS ist passiert?
•    WEM ist etwas passiert?
•    WO ist der Unfallort?

Gottstein gibt aber zu bedenken: „Jeder Leitstellendisponent ist gesetzlich dazu verpflichtet, den Notruf nach einem bestimmten Algorithmus abzufragen. Somit muss der Anrufer die ‚W-Fragen‘ nicht wissen, er wird durch die Leitstelle durch den Notruf geführt.“

Notfall vorbeugen

Ein funktionierendes Notfallmanagement ist im Rahmen eines jeden Praxisqualitätsmanagements Pflicht. Dazu gehören regelmäßige Schulungen in der eigenen Praxis und mit dem gesamten Praxispersonal. Einmal im Jahr sollte dies erfolgen, mindestens jedoch alle zwei Jahre. Mit dieser Regelmäßigkeit wird zum einen eine gewisse Routine im Umgang mit Notfällen erworben, gerade weil diese eher selten in der Praxis vorkommen. Zum anderen sind Sofortmaßnahmen auch gelegentlichen Änderungen unterworfen.

Gottstein erklärt: „Beispielsweise hat man die Durchführung der stabilen Seitenlage vereinfacht. Darüber hinaus legt man die Priorität mittlerweile auf die schnelle und effektive Herzdruckmassage ohne lange Unterbrechung.“ Auch die Medikamente für den Notfall sowie die Notfallausrüstung hat man auf ein Minimum reduziert.

Notfallkoffer

Eine sinnvolle Notfallausrüstung sollte heutzutage mindestens aus folgenden Elementen bestehen:
•    Beatmungsbeutel mit Masken für Erwachsene und Kinder
•    manuelles Blutdruckmessgerät
•    automatisches Oberarmblutdruckmessgerät
•    Pulsoximeter
•    Blutzuckermessgerät
•    Magill/Kornzange
•    Glukose-Oralgel bei einer Unterzuckerung
•    Nitrolingual-Akutspray bei einem Herzinfarkt oder Angina pectoris
•    Fastjekt (R), Fertigspritze bei einem allergischen Schock
•    Verbandmaterial nach DIN13157

„Bei der Ausstattung des Koffers sollte darauf geachtet werden, dass die Bestandteile übersichtlich angeordnet sind, der Koffer gut zugänglich und nicht überfrachtet ist”, sagt Müller.

„Back to the Basics“ – so nennt es Gottstein.

Dr. Sönke Müller
niedergelassener Internist in Neckargemünd bei Heidelberg und Referent für den Bereich „Notfallmedizin“ u. a. auch für Zahnärztliche Akademien,
notfallseminare@t-online.de

Mike F. R. Gottstein
Rettungsassistent und Geschäftsführer E.M.S menoTrain SE, bietet spezialisierte Notfalltrainings für Arztpraxen, Zahnarztpraxen, Kliniken, Gewerbebetriebe.
m.gottstein@notfallsicher.de