Muss sich der Zahnarzt an Leitlinien halten?
Leitlinien, Konsensuskonferenzen, wissenschaftliche Stellungnahmen – der Zahnarzt wird in seinem Berufsleben mit zahlreichen Therapiedefinitionen konfrontiert. Doch muss er sich an Leitlinien wirklich halten? Welchen Einfluss haben die Therapieempfehlungen im Praxisalltag und welche sind wirklich relevant?
Wissenschaftliche Empfehlungen für die niedergelassenen Zahnärzte zur Behandlung von Patienten sind in vielen Bereichen der Zahnmedizin erwünscht. Für den Praktiker am Behandlungsstuhl kann es sinnvoll sein, das weitere Vorgehen bei einem bestimmten Patientenfall mit einer solchen Empfehlung abzugleichen. Noch wichtiger können wissenschaftliche Empfehlungen im Nachhinein sein.
Wenn nämlich vor Gericht über eine Behandlung gestritten wird und sie anhand einer entsprechenden Empfehlung mit dem „richtigen“ Vorgehen verglichen werden kann. Doch welche Empfehlungen sind die richtigen? Was ist mit Konsensuskonferenzen und Stellungnahmen? Und ab welcher Stufe sind Leitlinien empfehlenswert? Der Zahnarzt muss bei der doch etwas unübersichtlichen Zahl an Empfehlungen wissen, welche für ihn die richtigen sind.
Leitlinien in der Zahnmedizin
Die „Speerspitze“ wissenschaftlicher Empfehlungen sind Leitlinien. Diese werden in einem systematischen Prozess von Fachleuten, Vertretern verschiedener Fachbereiche und Arbeitsgruppen sowie Patientenvertretern und potenziellen Anwendern erstellt.
Inhaltlich folgen sie den Empfehlungen des Deutschen Instruments zur methodischen Leitlinien-Bewertung (DELBI). Um Autoren von Leitlinienprojekten bei ihrer Arbeit zu unterstützen, stellt die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde für jede Stufe der Leitlinienentwicklung ein Ablaufschema zur Verfügung, das mit Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF) und des Zentrums Zahnärztliche Qualität (ZZQ) entwickelt wurde.
AWMF-Stufenklassifikation für Leitlinien
Leitlinien in der Zahnmedizin werden nach der AWMF-Stufenklassifikation definiert. Diese kennt drei verschiedene Leit‧linien-Stufen. „Die Systematik und Wertigkeit steigt von S1 nach S3“, erklärt Prof. Dr. Michael Walter, Präsident elect der DGZMK. Die S1-Leitlinie werde als Handlungsempfehlung bezeichnet und basiere auf einem informellen Konsens einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der beteiligten Fachgesellschaften. Bei S2-Leitlinien werde noch zwischen S2e- und S2k unterschieden. Während die S2e-Leitlinien (evidenzbasiert) auf einer systematischen Literaturrecherche und -bewertung beruhten, liege S2k-Leitlinien (konsensbasiert) ein formaler Konsensusprozess zugrunde. „Die S3-Leitlinie ist die höchste Stufe und sowohl evidenz- als auch konsensbasiert.“
Hat eine Leitlinie den Prozess, der durchaus länger als ein Jahr dauern kann, durchlaufen, wird sie von der AWMF veröffentlicht und ist für einen festgesetzten Zeitraum gültig. Etwa sechs Monate vor Ablauf des Gültigkeitsdatums wird durch eine Expertengruppe über die Notwendigkeit und den Umfang einer Aktualisierung und Revision der Leitlinie entschieden. Sollten vor Ablauf dieser Frist neue relevante Erkenntnisse vorliegen, erfolgt eine kurzfristige Aktualisierung der Leitlinie.
S3-Leitlinie zur Langzeitbewährung vollkeramischer Kronen und Brücken
Ganz aktuell hat die DGZMK eine neue S3-Leitlinie zur Langzeitbewährung vollkeramischer Kronen (Vollkronen) und Brücken (dreigliedrige Brücken) veröffentlicht. Federführend waren dabei die Deutsche Gesellschaft für Prothetik (DGPro), die DGZMK sowie zwölf weitere beteiligte Fachgesellschaften. Ausgewertet wurde die vorhandene wissenschaftliche Evidenz aus klinischen Studien mit mindestens fünfjährigem Beobachtungszeitraum. Die neue Leitlinie löst nach der Veröffentlichung die gleichnamige DGZMK-Stellungnahme zu dem Thema ab.
Doch warum entsteht eigentlich eine Leitlinie? „Die Notwendigkeit einer Leitlinie leitet sich aus wahrgenommenen Versorgungsproblemen ab“, erklärt Walter, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden. Dabei würden Aspekte wie die Häufigkeit einer Therapie, Versorgungsunterschiede und Informationsbedarf bei neuen Technologien wie etwa die Vollkeramik eine Rolle spielen. „Das Thema einer Leit‧linie sollte gut begründbar und nachvollziehbar sein.“ Der Prozess startet in der Regel mit einem Vorschlag aus den Reihen der DGZMK, der Fachgesellschaften, BZÄK, KZBV oder der Berufsverbände.
Leitlinien: Nicht rechtlich bindend
Leitlinien sind rechtlich nicht bindend. „Grundsätzlich kann man auch außerhalb der Leitlinien handeln und behandeln“, sagt Walter. Das gelte für Leitlinien aller Stufen, wobei der Stellenwert von S3-Leitlinien natürlich höher als der von S1-Leitlinien sei. „Die S1-Leitlinie wird heute ja von der AWMF als Handlungsempfehlung bezeichnet. Diese Wortwahl macht den niedrigeren Stellenwert deutlich.“ In Fällen einer von den Leitlinienempfehlungen abweichenden Behandlung sollte man aber die Abweichung nachvollziehbar begründen können, empfiehlt Walter. Das sei besonders aus forensischen Gründen ratsam.
Leitlinien haben weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung. Trotzdem werden Leitlinien von Gutachtern in Gerichtsverfahren regelmäßig herangezogen. Laut Walter ist allgemein bekannt, dass in der Zahnmedizin viele Behandlungen nicht auf höherem Niveau evidenzbasiert sind. Daher griffen Gerichte und Juristen gerne auf die besten verfügbaren und gut zu handhabenden Aussagen zu zahnmedizinischen Behandlungen zurück. „Auch für Gutachter bieten sich die Leitlinien natürlich an, auch wenn Abweichungen von einer Leit‧linie nicht automatisch mit einem Behandlungsfehler gleichzusetzen sind“, gibt Walter zu bedenken.
Leitlinie nur als Orientierungshilfe?
Medizinanwälte weisen darauf hin, dass der Zahnarzt immer auf den Einzelfall achten muss und eine Leitlinie nur als Orientierungshilfe verwenden kann. Auch Gutachter gingen ähnlich vor. Zwar bezögen sie Leitlinien und andere Empfehlungen bei ihrer Gutachtertätigkeit mit ein – aber auch dabei komme es immer auf den konkreten Einzelfall an, für den der Sachverständige ein Gutachten erstelle. Und dieser Einzelfall könne beispielsweise von einer Leitlinie in verschiedenen Bereichen abweichen.
Die Leitlinienentwicklung folgt definierten Qualitätsstandards. Für Konsensuskonferenzen außerhalb von Leitlinienverfahren gibt es laut Walter dagegen keine klar definierten Vorgaben zu der Auswahl von Teilnehmern und zum Vorgehen. „Dadurch ergeben sich natürlich auch Unterschiede in der Qualität und im Stellenwert. Für Außenstehende ist diesbezüglich eine Einschätzung nicht immer ganz einfach.“ Wie wird dies aber von Gutachtern und Juristen bewertet?
Konsensuskonferenzen bei fehlenden Leitlinien
Rechtsanwalt Nico Gottwald aus der Kanzlei Ratajczak und Partner in Sindelfingen bestätigt, dass insbesondere Gutachter sich erfahrungsgemäß bei fehlenden Leitlinien immer wieder auf Konsensuskonferenzen berufen, was von Gerichten auch akzeptiert werde. Es gebe allerdings kaum veröffentlichte Urteile. Ihm ist nur eines aus dem Jahr 2007 bekannt.
Dort heißt es in der Urteilsbegründung: „Auch zu dem von der Beklagten erhobenen Einwand, dass es keine klinischen Langzeitprognosen gäbe, trägt der Sachverständige überzeugend vor, dass dies bedingt durch den Innovationszyklus nur wenige Implantatsysteme am heutigen Markt aufweisen könnten.Die Richtlinien der zuständigen Konsensuskonferenzen seien jedoch für die Beurteilung der objektiven Befunde des Klägers für die BOI-Implantate im Gutachten herangezogen worden, da auch die BOI-Implantate als enossale, totationssymmetrische Implantate einzustufen seien. Das BOI-Implantat stelle somit ein stufenförmiges Implantat dar, wie es auch andere Firmen in Verkehr bringen würden, die von der Beklagten erstattet würden.“ (Urteil des Landgerichts Köln vom 07.02.2007, Az.: 23 O 458/04)
Ähnlich wie bei der Leitlinie verhält sich mit der Einschätzung von Gutachtern bei Konsensuskonferenzen oder Stellungnahmen: Es geht immer um den konkreten Einzelfall. Die entsprechende Empfehlung muss zu diesem erst genau passen, bevor sie berücksichtigt werden kann.
Was sind Leitlinien?
Werden nach dem Regelwerk der AWMF (Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften) nach definierten formalen Kriterien erstellt. Sie sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. „Leitlinien“ sind rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.
Konsensuskonferenz Implantologie
Neutraler Sammelpunkt, ins Leben gerufen zur Meinungsbildung und zur Umsetzung des Tätigkeitsschwerpunkts Implantologie. In erster Linie geht es um Qualitätssicherung in der Implantologie, die einheitliche Definition von medizinischen Maßstäben und die übereinstimmende Festlegung von Fortbildungsinhalten und ihre gegenseitige Anerkennung und gleichmäßige Bewertung, jeweils bezogen auf dieses Gebiet.
Ziel der Konsensuskonferenz war und ist die Aufstellung bundeseinheitlicher Kriterien der Fortbildung im Bereich der zahnärztlichen Implantologie. Teilnehmer sind: Berufsverband der Oralchirurgen e. V. (BDO), Bundesverband der implantologisch tätigen Zahnärzte in Europa e. V. (BDIZ EDI), Deutsche Gesellschaft für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie e. V. (DGMKG). Deutsche Gesellschaft für Implantologie im Zahn-, Mund- und Kieferbereich e. V. (DGI) und die Deutsche Gesellschaft für zahnärztliche Implantologie e. V. (DGZI).