"Prangerwirkung": Zahnarzt verliert Prozess vor OLG Karlsruhe

Öffentlichkeit vor Persönlichkeitsrecht

Ein Zahnarzt hat einen Prozess vor dem OLG Karlsruhe verloren. Er hatte versucht, sich gegen einen Pressebeitrag zu wehren. Zwar wurde der Zahnarzt darin nicht namentlich genannt, der Bericht enthielt aber Hinweise, mit denen die Identität des Zahnarztes ermittelt werden konnte.


Das Oberlandesgericht Karlsruhe urteilte zuungunsten des Zahnarztes und stellte in diesem Fall das Interesse der Öffentlichkeit über das Persönlichkeitsrecht. Foto: Pekchar/Fotolia.com; Urmetzer


Das OLG Karlsruhe hat kürzlich über einen Fall entschieden, bei dem sich ein Zahnarzt gegen einen Pressebeitrag zu wehren versuchte, der über das gegen ihn geführte staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren berichtet hatte. Zwar wurde der Zahnarzt nicht namentlich genannt, der Bericht enthielt aber Hinweise, die die Identität des Zahnarztes zu ermitteln geeignet waren.

In dem streitigen Beitrag wurde berichtet über ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung, das gegen einen Zahnarzt „mit einer großen Praxis in X.“ wegen des Vorwurfs geführt werde, Zähne gezogen und durch Implantate ersetzt zu haben, „ohne dass dies in diesem Umfang medizinisch indiziert gewesen sein soll“. Weiter wurde berichtet, es gebe neben einer Anzeigeerstatterin noch weitere Patienten, denen „auffallend viele Zähne gezogen worden seien“; bei einer Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen seien zahlreiche Patientenakten beschlagnahmt worden. Die Rede war weiterhin von „rund vier Dutzend Anzeigen“, „bislang 35 potenziell Geschädigten“; es wurden Äußerungen der Staatsanwaltschaft sowie eines Mitglieds der zuständigen Landeszahnärztekammer gebracht. Über die Verknüpfung verschiedener Details, die in dem Bericht zu finden waren, ließ sich die Spur zu dem betroffenen Zahnarzt aufnehmen.

Der Zahnarzt wehrte sich gegen diese Berichterstattung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Diese Form der identifizierenden Berichterstattung sei unzulässig. Die davon ausgehende „Prangerwirkung“ verletze sein allgemeines Persönlichkeitsrecht. Seine berufliche Existenz stehe auf dem Spiel. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien unzutreffend und der beklagte Verlag habe bei der Berichterstattung die ihn treffenden Sorgfaltspflichten verletzt.

In der Tat ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein im Grundgesetz geschütztes Recht. Dieses sahen die Gerichte in beiden Instanzen, durch die das Verfahren ging, verletzt.

Den Entscheidungsgründen des OLG Karlsruhe zu seinem Urteil vom 02.02.2015 (Az. 6 U 130/14) ist zu entnehmen: „Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die angegriffene Berichterstattung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) eingreift. Dieses Grundrecht schützt Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand besonderer Freiheitsgarantien sind, aber diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen. Dazu gehört auch die soziale Anerkennung des Einzelnen. Aus diesem Grund umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Schutz vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken. Allerdings reicht der Schutz dieses Grundrechts nicht so weit, dass es dem Einzelnen einen Anspruch darauf verliehe, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte. Jedenfalls wird er aber vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen seiner Person geschützt, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind … Der in dem Bericht wiedergegebene Vorwurf, in erheblichem Umfang gesunde Zähne gezogen, durch Implantate ersetzt und dies sodann abgerechnet zu haben, ist gravierend und ohne weiteres geeignet, den sozialen Geltungsanspruch des so verdächtigten Zahnarztes in erheblichem Maße zu beeinträchtigen. Das gilt unabhängig davon, dass der Vorwurf nicht als erwiesen dargestellt wird. Von diesem Vorwurf ist der Kläger aufgrund des Artikels betroffen.“

Nun steht diese zunächst einmal festgestellte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Zahnarztes im Konflikt mit dem – ebenfalls durch das Grundgesetz geschützten – allgemeinen Recht zur Meinungsäußerung, das auch der „Presse“ zusteht. Dieser Konflikt wird im Presserecht über eine Abwägung dieser beiden widerstreitenden Interessen gelöst. Und im Ergebnis hat der eine oder der andere recht, oder mit anderen Worten: Entweder muss der Presse das Verbreiten untersagt werden, oder der Betroffene muss die Veröffentlichung eben dulden.

Abwägung der Rechtsgüter

Die Abwägung fiel in diesem konkreten Fall zuungunsten des betroffenen Zahnarztes aus, auch wenn gegen ihn zum Zeitpunkt der Berichterstattung erst ermittelt wurde, es sich also um eine Verdachtsberichterstattung handelte und noch nicht feststand, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht.

Wie wird das begründet? Wie gesagt hat grundsätzlich eine Abwägung der konkurrierenden Rechtsgüter stattzufinden.

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist als sonstiges absolutes Recht über §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB analog zivilrechtlich geschützt. Eine Verletzung dieses Rechts begründet einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch. Bei der Frage, ob eine ehrkränkende Äußerung rechtmäßig oder rechtswidrig ist, ist die ebenfalls grundrechtsgeschützte Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 10 EMRK) des Äußernden zu berücksichtigen. Zur Lösung des Konflikts zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Meinungsäußerungsfreiheit ist eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits vorzunehmen … Im Zuge der Abwägung sind die grundrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, die in der Rechtsprechung zu vergleichbaren Konfliktlagen ausgeformt worden sind.“

Das bedeutet, der jeweilige Fall wird an der bereits bestehenden Rechtsprechung gemessen, um eine gerechte und ausgewogene Abwägung vorzunehmen. Welche Voraussetzungen muss eine rechtswirksame Abwägung also erfüllen? Das OLG Karlsruhe fasst dies wie folgt zusammen:

„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts darf eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, so lange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 GG, § 193 StGB). Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass der auf Unterlassung in Anspruch Genommene vor Aufstellung oder Verbreitung der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt hat. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten.

Sorgfaltspflicht der Medien

Sie sind für die Medien grundsätzlich strenger als für Privatleute. An die Wahrheitspflicht dürfen aber im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so den freien Kommunikationsprozess einschnüren. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Wahrheitspflicht Ausdruck der Schutzpflicht ist, die aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt. Je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt, umso höhere Anforderungen sind deshalb an die Erfüllung der Sorgfaltspflichten zu stellen. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an derartigen Äußerungen zu berücksichtigen. Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst ‚Öffentlichkeitswert‘ verleihen. Die Darstellung darf keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffent‧lichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.“

Im Ergebnis und unter Einhaltung dieser Voraussetzungen kommt das OLG Karlsruhe zu dem Schluss, die hier beanstandete Verdachtsberichterstattung über den Zahnarzt sei nicht angreifbar gewesen und müsse nicht untersagt werden. Besonders ins Gewicht gefallen ist bei der Abwägung durch das Gericht, dass doch erhebliche und vielfache Vorwürfe gegen den Zahnarzt im Raum standen. „Der angegriffene Artikel berichtet wahrheitsgetreu über die gegen den Kläger geführten Ermittlungen und über die weiteren damit im Zusammenhang stehenden Umstände. Unstreitig wird gegen den Kläger wegen des Vorwurfs, er habe in einer Mehrzahl von Fällen gesunde Zähne gezogen und durch Implantate ersetzt und diese medizinisch nicht indizierten Behandlungen sodann abgerechnet, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des Betruges geführt. Der Artikel lässt keinen Zweifel daran, dass zum Berichtszeitpunkt lediglich ein Verdacht bestand und die Ermittlungen noch am Anfang stehen. Das Landgericht hat ferner als unstreitig festgestellt, dass das Ermittlungsverfahren aufgrund zahlreicher Anzeigeerstattungen geführt wird; den hiergegen gerichteten Tatbestandsberichtigungsantrag hat das Landgericht mit Beschluss vom 15.09.2014 zurückgewiesen. Mit der Berufung wird diese tatbestandliche Feststellung des Landgerichts nicht angegriffen; sie ist somit vom Senat der Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen, weil keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der entsprechenden Feststellung im Sinne vorliegen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).“

Vielzahl an Anzeigen

„Zutreffend hat das Landgericht ausgeführt, dass sich der Artikel auf einen Mindestbestand an Beweistatsachen stützen kann, die für den Wahrheitsgehalt der berichteten Vorwürfe sprechen. Zu Recht hat das Landgericht in diesem Zusammenhang vorrangig auf die Vielzahl der erstatteten Anzeigen hingewiesen. Der Umstand, dass eine Mehrzahl von Patienten gegen ihren Zahnarzt gleichgerichtete Vorwürfe der hier in Rede stehenden gravierenden Art erheben, verleiht dem Tatverdacht auch dann erhöhtes Gewicht, wenn die Überprüfung der Berechtigung in jedem Einzelfall noch nicht geleistet ist. Dass die Staatsanwaltschaft diese Vorwürfe dementsprechend ernst nimmt, wird auch daran deutlich, dass sie Gerichtsbeschlüsse zur Durchsuchung der Privat- und Geschäftsräume des Klägers erwirkt und bei deren Durchführung Patientenakten beschlagnahmen ließ. Beides sind einschneidende Maßnahmen, die nicht nur in Rechte des beschuldigten Klägers, sondern im Fall der Beschlagnahme von Patientenakten auch in Rechte Dritter eingreifen und bei denen deshalb in besonderem Maße der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (vgl. KKStPO/Greven, StPO, § 97 Rn. 36). Weiter verstärkt werden die für den Verdacht sprechenden Beweisanzeichen durch die wiedergegebenen Äußerungen des Vizepräsidenten der Landeszahnärztekammer, die nach dem Bericht aufgrund von Beschwerden über Unregelmäßigkeiten mit den Vorwürfen befasst war. Dieser stuft die Dimension des Falles als außerordentlich gravierend und einmalig in seiner langjährigen Berufspraxis ein und lässt sich mit der Aussage zitieren, es sei eine Katastrophe, wenn die Vorwürfe stimmten.

Die Staatsanwaltschaft selbst hat nach dem Bericht zwar die konkrete, in vorangegangenen Artikeln genannte Zahl von Anzeigen (vier Dutzend) nicht bestätigt, aber ebenfalls von ,zahlreichen Geschädigten‘ gesprochen. Zusammengenommen ergibt sich das Bild von zahlreichen gleichartigen Vorwürfen, die von verschiedenen damit befassten Stellen (Staatsanwaltschaft, Landeszahnärztekammer) außerordentlich ernst und im Fall der Staatsanwaltschaft zum Anlass für einschneidende Ermittlungsmaßnahmen genommen werden. Damit gehen die Verdachtsmomente, auf die sich die Berichterstattung stützt, deutlich über bloße Spekulation oder eine vereinzelte Anschuldigung hinaus.“

Ganz entscheidend war zudem die Tatsache, dass die Berichterstattung nach Einschätzung des Gerichts „sachlich-distanziert“ war und gerade nicht damit gespielt hat, dass an den Vorwürfen vielleicht etwas dran sein könnte. Es soll deutlich geworden sein, dass es sich eben nur um Vorwürfe, aber nicht erwiesene Tatsachen handele.

Stellungnahme

Nach den beschriebenen Forderungen aus der Rechsprechung kommt es für eine rechtmäßige Verdachtsberichterstattung darauf an, dass der Betroffene vor der Veröffentlichung Gelegenheit zur Stellungnahme bekommt. Das war geschehen, der Zahnarzt hatte aber über seinen Anwalt erklären lassen, er werde sich nicht äußern. „Auch der Umstand, dass der Artikel nicht den Standpunkt des Klägers darstellt, steht der Ausgewogenheit nicht entgegen. Das Landgericht hat festgestellt, dass dem Kläger vor der Veröffentlichung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist und dass er daraufhin über seinen Anwalt erklärt hat, er werde sich zu dem Vorwurf nicht äußern. Nach dieser Erklärung konnte die Beklagte davon ausgehen, dass der Kläger sich auf eine (nochmalige) an ihn gerichtete Anfrage nicht zur Sache einlassen werde, so dass es sich bei der Anfrage um eine bloße Förmelei handeln würde.“

Schließlich stellt das OLG Karlsruhe klar heraus, dass die Vorwürfe gegen den Zahnarzt derart gravierend seien, dass darüber ein Interesse der Öffentlichkeit daran anzunehmen sei, das sogar die Identifizierbarkeit des Zahnarztes rechtfertige. „Der berichtete Vorgang ist derart gravierend, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die durch den Artikel bewirkte Identifizierbarkeit des Klägers rechtfertigt.“

Existenzbedrohend

Nun könnte der Eindruck entstehen, dass das Gericht bei seiner Abwägung die berechtigten Interessen des Zahnarztes nicht hinreichend im Blick gehabt hätte. An derart beschriebenen Vorwürfen kann eine ganze Existenz hängen. Dies haben beide Instanzen sehr wohl berücksichtigt, diesen Aspekt gleichwohl wiederum in Relation zu der Schwere der erhobenen Vorwürfe gestellt. „Das Landgericht ist allerdings bei der Interessenabwägung wiederum zu Recht davon ausgegangen, dass die Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die damit einhergehende Gefährdung seiner wirtschaftlichen Interessen aufgrund der beanstandeten Berichterstattung sehr schwer wiegen. Der im Internet veröffentlichte Artikel hat zumindest potenziell eine große Reichweite. Auch wenn der Artikel, wie ausgeführt, zweifelsfrei klarmacht, dass der Kläger zum Berichtszeitpunkt weder verurteilt war noch die gegen ihn geführten Ermittlungen abgeschlossen waren, so dass er weiterhin als unschuldig zu gelten hatte (Art. 6 Abs. 2 EMRK), wird der durchschnittliche Leser, der die Person des Klägers auf die oben dargestellte Weise ermittelt, aufgrund des Berichts in seinem Vertrauen in dessen Integrität und sachgemäße Berufsausübung erheblich erschüttert. Es muss damit gerechnet werden, dass die Veröffentlichung – zusammen mit weiteren Veröffentlichungen desselben Artikels in anderen Medien – zu erheblichen Vorbehalten gegenüber dem Kläger und zumindest eine Zeit lang zu erheblicher Zurückhaltung der Patienten gegenüber seiner Praxis führen wird. Diese Beeinträchtigung kann, wie das Landgericht ausgeführt hat, existenzgefährdende Wirkung haben.

Diese Wirkungen des Artikels beruhen aber gerade auf der qualitativen und quantitativen Dimension der gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe. Wie jeder Arzt nimmt auch der Kläger in besonderem Maße das Vertrauen seiner Patienten in Anspruch. Der Vorwurf, in zahlreichen Fällen gesunde Zähne extrahiert, durch Implantate ersetzt und dies sodann als Heilbehandlung abgerechnet zu haben, ist deshalb außerordentlich gravierend. Träfe er zu, stellte dies einen eklatanten Missbrauch des dem Arzt von seinen Patienten entgegengebrachten Vertrauens dar. Wenn ein solch gravierender Vorwurf in einer Vielzahl von Fällen erhoben wird, verleiht dies zum einen dem Vorwurf ein größeres Gewicht als eine vereinzelte Anschuldigung, bei der möglicherweise eher mit sachfremden Motiven gerechnet werden müsste.“

Schutz der Zahnärzte

Neben dem „Schutz“ der Patienten, die eine Identifizierbarkeit rechtfertigen soll, sieht das Gericht auch die anderen Zahnärzte als schützenswert an. Diese sollen nicht einem „Generalverdacht“ unterliegen und ihre Patienten nicht in Unsicherheit darüber verfallen, ob es sich gegebenenfalls sogar um ihren eigenen Zahnarzt handele.

„Zum anderen aber begründet der gegen den Kläger von einer Vielzahl von Anzeigeerstattern erhobene Vorwurf, der bereits vor der streitgegenständlichen Berichterstattung und unabhängig von dieser durch anonymisierte Berichterstattung in die Öffentlichkeit gelangt war, eine erhebliche Verunsicherung in der Bevölkerung. Solange nicht feststellbar ist, gegen wen sich diese Vorwürfe richten, stellt sich jedem Zahnarztpatienten die Frage, ob gerade sein Zahnarzt der Beschuldigte des Ermittlungsverfahren ist, über das berichtet wird. Hieraus resultiert ein ebenfalls gewichtiges und anerkennenswertes Interesse an Hinweisen auf die Identität des Beschuldigten.

Nicht zu verkennen ist schließlich, dass auch die Zahnärzte im Raum A., die von den Ermittlungen nicht betroffen sind, nach Bekanntwerden der Vorwürfe ein erhebliches, u. a. durch die ganzseitige Zeitungsanzeige in Anlage … dokumentiertes Interesse daran haben, dass sich verunsicherte Patienten ein Bild davon machen können, wer in dem Ermittlungsverfahren beschuldigt wird.“

Zusammenfassend stellt das OLG Karlsruhe klar, das Recht der Presse auf die Verdachtsberichterstattung dürfe nicht eingeschränkt werden. „Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, dass diese Informationsinteressen der Öffentlichkeit unter den Gegebenheiten des Streitfalls die Geheimhaltungsinteressen des Klägers überwiegen. Die Berichterstattung über mögliche Missstände gehört zu den grundlegenden Aufgaben einer freien Presse. Dürfte die Presse, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur solche Informationen verbreiten, deren Wahrheit bereits im Zeitpunkt der Veröffentlichung mit Sicherheit feststeht, so könnte sie ihre durch Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht durchweg erfüllen; dabei ist auch zu beachten, dass ihre ohnehin begrenzten Mittel zur Ermittlung der Wahrheit durch den Zwang zu aktueller Berichterstattung verkürzt sind.“

Mögliche Straftat

Der sensible Bereich der Medizin führt hier gerade dazu, dass das Gericht eine eher „möglichere Verdachtsberichterstattung“ zulässt. Das OLG führt unter Bezugnahme auf die BGH-Rechtsprechung aus: „Der Bundesgerichtshof hat in der soeben zitierten Leitentscheidung zur Verdachtsbericht‧erstattung vom 07 Dezember 1999 ausgeführt, eine Namensnennung komme im Rahmen der Verdachtsberichterstattung grundsätzlich nur in Fällen schwerer Kriminalität oder bei Straftaten in Betracht, die die Öffentlichkeit besonders berühren … Unabhängig davon, dass der beanstandete Artikel keine Namensnennung enthält (dazu sogleich), handelt es sich im Streitfall – wie sich aus dem Vorstehenden ergibt – um die Berichterstattung über mögliche Straftaten, die die Öffentlichkeit besonders berühren; sie begründen ein weitaus größeres Informationsinteresse als sonstige Deliktsachverhalte. Im Übrigen ist dem Landgericht aber auch darin zuzustimmen, dass die Frage, ob es sich um einen Fall schwerer Kriminalität handelt, nicht abschließend durch die abstrakte Betrachtung des Strafrahmens der in Rede stehenden Delikte und ihre Einteilung in Verbrechen oder Vergehen determiniert wird. Vielmehr ist der Begriff der schweren Kriminalität im vorliegenden Zusammenhang unter Berücksichtigung der Informationsinteressen der Öffentlichkeit auszufüllen.

Als schwere Kriminalität können daher auch solche Deliktsvorwürfe angesehen werden, die zwar nicht unter Verbrechenstatbestände fallen, die aber infolge der konkreten Tatumstände von einer solchen Schwere sind, dass für den Fall, dass sie sich als zutreffend erweisen sollten, mit erheblichen Freiheitsstrafen gerechnet werden kann. Das ist der Fall, wenn ein Zahnarzt in einer Vielzahl von Fällen aus Gewinnstreben seinen Patienten gesunde Zähne extrahiert und dies als Heilbehandlung abrechnet.“

Keine Namensnennung

Abschließend grenzt das OLG Karlsruhe noch ab, dass die Möglichkeit der Identifizierung des Zahnarztes nicht gleichzustellen sei mit der ausdrücklichen Namensnennung. „Im Streitfall wird – worauf das Landgericht in Parallelverfahren zutreffend hingewiesen hat – die Identität des Klägers nicht durch den Artikel selbst preisgegeben; vielmehr ermöglicht der Artikel demjenigen Leser, der sich über die Identität des Beschuldigten informieren will, dies durch eigene, allerdings naheliegende Nachforschungen selbst herauszufinden. Damit stellt der Artikel den Kläger nicht in gleicher Weise öffentlich bloß wie wenn sein Name und/oder sein Bild im Artikel selbst direkt genannt würden. Auch wenn der Umstand, dass der Artikel den Kläger identifizierbar macht, eine schwerwiegende Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts bedeutet, muss bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden, dass die Eingriffsintensität der gewählten Berichterstattung nicht so hoch ist wie bei einer direkten Benennung des Klägers und dass diese Form der Berichterstattung gerade auf diejenigen Leser zielt, deren Informationsbedürfnis groß genug ist, dass sie bereit sind, die zur Identifizierung des Klägers notwendigen Nachforschungen anzustellen. Diese dem Informationsbedürfnis Rechnung tragende und die Beeinträchtigung des Klägers vermindernde Berichterstattung ist bei Würdigung der genannten Umstände des vorliegenden Falls vom Grundrecht der Pressefreiheit, auf das sich die Beklagte berufen kann, gedeckt.“

Hier bleibt es am Ende wohl Geschmackssache, ob eine eindeutige Identifizierbarkeit einer ausdrücklichen Namensnennung nicht auch schon gefährlich nahe kommt.

Dr. Susanna Zentai
ist Medizinanwältin in der Kanzlei Dr. Zentai – Heckenbücker in Köln und als Beraterin sowie rechtliche Interessenvertreterin (Zahn-)Ärztlicher Berufsvereinigungen tätig.
kanzlei@d-u-mr.de