Tissue Master Concept: Biologie in der Mundhöhle
Das Tissue Master Concept ermöglicht die biologische Regeneration und den Erhalt des alveolären Knochens, etwa wenn der eigene Zahn nicht mehr zu erhalten ist. Welche weiteren Indikationen sich umsetzen lassen, bringen Dr. Stefan Neumeyer, Eschlkam, und Dr. Sabine Hopmann, Lemförde, im Gespräch mit dem DENTAL MAGAZIN auf den Punkt.
Herr Dr. Neumeyer, Sie haben mit dem Tissue Master Concept (TMC) vor 15 Jahren einen Ansatz entwickelt, der auf den positiven Ergebnissen der Replantation und Extrusion von Zähnen fußt. Der Unterschied: Kein ganzer Zahn, sondern nur ein Wurzelsegment wird replantiert. Wie verbreitet ist die Anwendung heute?
Neumeyer: Das Tissue Master Concept findet seine Anwendung in der täglichen Praxis vieler Kolleginnen und Kollegen. Die Resonanz wird immer größer. Das spiegelt auch unser 2. Tissue Master Congress wider, der Ende September in Nürnberg als Hybridveranstaltung stattfand. Er war trotz der Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie ein echter Erfolg. Das Tissue Master Concept beruht auf den bisher bekannten Grundlagen der biologischen Vorgänge in der Mundhöhle. Eine besondere Rolle spielen die strukturellen und funktionellen Zusammenhänge von Parodont, supracrestaler Faserstruktur und alveolärem Knochen. Die Intention des 2. Tissue Master Congress war es, möglichst viele Experten aus der Zahnheilkunde, die sich schwerpunktmäßig mit diesem Thema in Forschung und Praxis ‧befassen, zusammenzubringen. Das ist uns gelungen.
Frau Dr. Hopmann, Sie gehören seit Jahren zu den Anwendern des Konzepts. Was ist das Besondere?
Hopmann: Die TMC-Behandlung ist für die Patienten absolut schonend und minimalinvasiv. Das kommt an! Umfangreiche augmentative ‧Operationen erübrigen sich. Die Patienten sind einhellig begeistert von der Methode, können sie doch zuschauen, wie ihr eigener Zahn dazu beiträgt, den Knochen wachsen zu lassen. Das Tissue Master Concept ist ein sehr interessantes Alleinstellungsmerkmal für jede innovative Praxis. Es beruht auf bisher bekannten Grundlagen der biologischen Vorgänge in der Mundhöhle. Ich selbst arbeite seit zwölf Jahren entsprechend und habe inzwischen weit mehr als 500 Fälle so behandelt.
Eine besondere Rolle spielen die strukturellen und funktionellen Zusammenhänge von Parodont, supracrestaler Faserstruktur und alveolärem Knochen. Dr. Stefan Neumeyer
Gibt es auch Risiken?
Neumeyer: Kaum, das Risiko ist sehr gering, da es bei fachgerechter Behandlung sehr selten zu einem Nichteinheilen des Segments kommt.
Und wenn das doch passiert?
Neumeyer: Dann würde in dem Fall die ‧Extraktionsalveole der üblichen Resorption nach Extraktion unterworfen sein.
Hopmann: Die Replantation eines Wurzelsegmentes kann natürlich nur erfolgen, solange die Alveole und auch der Faserapparat auf der Wurzeloberfläche noch vorhanden sind. Ist der dento-alveoläre Faserapparat stark geschädigt – durch eine Parodontitis oder auch eine Wurzelfraktur – so muss ein anderer therapeutischer Weg aus dem TMC eingeschlagen werden.
Was empfehlen Sie dann?
Neumeyer: In solchen Fällen wird der Zahn in toto forciert extrudiert, um den gesunden Faserapparat aus der Tiefe der Alveole in Richtung Mundhöhle zu bewegen. Dem Faserapparat folgt nach einer Wartezeit von acht bis zehn Wochen der Knochen. So kann auch im stark kompromittierten Fall der alveoläre Knochen minimal-invasiv regeneriert werden.
Kurz: Das TMC ermöglicht die biologische Regeneration und den Erhalt des alveolären Knochens, wenn der eigene Zahn nicht mehr zu erhalten ist.
Die Behandlung ist für die Patienten absolut schonend und minimalinvasiv. Das kommt an!Dr. Sabine Hopmann
Wie steht es mit der Evidenz?
Hopmann: Die Evidenz dieses Behandlungskonzeptes ergibt sich zum derzeitigen Zeitpunkt aus den mehr als 1000 erfolgreichen Behandlungsfällen aus der Praxis des TMC-Entwicklers Dr. Stefan Neumeyer und seinen Schülern. Viele Fälle sind bereits mehr als zehn Jahre dokumentiert und zeigen den klinischen Erfolg des Verfahrens.
Was ist der Unterschied zwischen der Extrusionstherapie und dem „Socket-Shield“-Verfahren?
Neumeyer: Die Socket-Shield-Methode bedient sich des gleichen biologischen Ansatzes wie die Extrusionstherapie. Auch beim Socket-‧Shield-Verfahren wird durch Belassen eines vestibulären Wurzelanteils bei der Sofortimplantation der wichtigen Information des dento-‧alveolären Faserapparates für den Erhalt des Bündelknochens Rechnung getragen. Diese Methode findet aber ausschließlich bei der Sofortimplantation im Frontzahnbereich Anwendung. Das TMC ermöglicht dagegen weitergehende Therapien wie die vollständige Regeneration des Knochens bei infektiös kompromittierter Alveole und zahlreiche weitere Indikationen, die eine Erhaltung des Zahnes erlauben.
Zum Beispiel?
Hopmann: Die operative klinische Kronenverlängerung kann vollständig durch forcierte Extrusion ersetzt werden. Das führt zu besseren Hebelverhältnissen für die spätere prothetische ‧Versorgung und ist natürlich weit weniger invasiv für den Patienten. Ästhetische Korrekturen der marginalen Gingiva und auch die Reduktion parodontaler Taschen sind weitere Möglichkeiten, das TMC in der Praxis gewinnbringend für Patient und Behandlungsteam einzubringen.
Sprich: Die Behandlung wird für den Patienten kostengünstiger, da auf jegliches Augmentationsmaterial verzichtet werden kann?
Neumeyer: So könnte man es formulieren.
Wo geht die Reise hin? Welche weiteren Entwicklungen erwarten Sie?
Hopmann: Mit weiterem Erkenntnisgewinn über die biologischen Vorgänge in der Mundhöhle sind unendlich viele neue Therapiemöglichkeiten denkbar. Der Forschungsbedarf hinsichtlich des Zusammenhangs und der Interaktion von dento-alveolärem Faserapparat und alveolärem Knochen ist immens. Natürlich wird es langfristig für die Patienten von großem Interesse sein, dass die Zahnmedizin möglichst viel biologisches Wissen aus der Mundhöhle in ihre Behandlungskonzepte integriert. Denn die Natur ist immer noch der beste Konstrukteur aller‧biologischen Systeme. Das unterstrichen auch die international renommierten Referenten – 16 Wissenschaftler und vier niedergelassene Zahnärzte – des 2. TMC-‧Congress. Sie stellten den derzeitigen Stand ihrer wissenschaftlichen Forschungen sowie Zukunftsszenarien vor und bestätigten, dass das TMC bereits heute eine Methode sei, die die bislang gesicherten biologischen Erkenntnisse berücksichtigt.
Wann rechnen Sie mit mehr Evidenz auf diesem Gebiet?
Hopmann: Es gibt viele gesicherte Antworten, aber auch neue Aspekte. Wir haben vor 15 Jahren damit begonnen, unsere Patienten nach dem TMC zu behandeln. Die Ergebnisse sind überzeugend und halten einer kritischen Überprüfung stand.
Die äußeren Bedingungen des zweiten TMC-Congress in Nürnberg waren aufgrund der Pandemie schwierig und die Veranstalter, Dr. Stefan Neumeyer und Dr. Sabine Hopmann, konnten erst wenige Wochen vor dem Termin mit der Werbung für den Kongress beginnen. Dennoch war die Resonanz gut und der Saal im Sheraton Hotel gut gefüllt, auch einige Streaming-Teilnehmer hatten sich zugeschaltet.
Namhafte Referenten beleuchteten den aktuellen Stand der Forschung und der praktischen Anwendung aus ihrem jeweiligen Blickwinkel. Einige Highlights:
- Die hochkomplexen Inhaltsstoffe im Blut und deren Nutzung für Heilungsprozesse fasste Prof. Dr. Dr. Dr. Shahram Ghanaati, Frankfurt, zusammen. Er zeigte, wie man aus zentrifugiertem Blut Membranen herstellt und diese heilsam für den Patienten in den täglichen operativen Praxisablauf integriert. Die Art der Zentrifugation beeinflusst wesentlich die Bioaktivität der Platelet rich fibrin (PRF) Matrix, wie er betonte. Die PRF-Methode verzichte auf die Zugabe von Antikoagulantien, so dass sie als rein autologes Material am Patienten eingesetzt werden könne, unterstrich er.
- PD Dr. Ingmar Staufenbiel, Hannover, stellte das von ihm entwickelte gewebeerhaltende Periimplantitis Konzept vor. Die suffiziente Dekontamination der Implantatoberfläche mit dem Ergebnis einer biologischen reosseointegrationsfähigen Implantatoberfläche nimmt in seinem Konzept die zentrale Rolle ein. Minimal-invasive chirurgische Verfahren wie die Granulationsgewebe erhaltende Technik ermöglichten einen suffizienten Zugang zu den Implantatoberflächen und verhinderten so mukosale Rezessionen, erklärte er. Das führe zu einem Maximum an periimplantärer Knochenregeneration.
- PD Dr. Dr. Peer Kämmerer, Mainz, fasste die aktuellen Möglichkeiten der zahnärztlichen Anästhesie und Sedierung zusammen und lieferte Tipps zum Umgang mit minimal-invasiven Verfahren und zur Medikation von Patienten.
- Dr. Stefan Neumeyer, Eschlkam, skizzierte den aktuellen Stand des TMC und seine biologischen Grundlagen. Anhand unterschiedlicher Fallbeispiele zeigte er, welch beeindruckende Ergebnisse sich mit der Replantation und Extrusion erzielen lassen.
- Prof. Dr. Werner Götz, Humanmediziner und Biologe der Uni Bonn, präsentierte Histologien, die den Erfolg des TMC im Vergleich zu anderen regenerativen Maßnahmen deutlich machten.
- Dr. Daniel Bäumer, Lindau, präsentierte das Konzept der „Socket-Shield“-Sofortimplantation anhand unterschiedlicher Fallbeispiele. Das von Prof. Marc Hürzeler entwickelte Konzept eigne sich sehr gut für Sofortimplantationen in der Oberkieferfront, solle allerdings nur von erfahrenen Kollegen in der Praxis eingesetzt werden.
- Den juristischen Aspekt neuer Therapieverfahren und noch nicht evidenzbasierter Behandlungsmethoden nahm sich RA Matthes Egger, Nürnberg, vor. Er lieferte handfeste Tipps für den Umgang mit Erstattungsstellen, Versicherungen und natürlich – im Fall der Fälle – den zuständigen Gerichten. Die Notwenigkeit der lückenlosen Behandlungsdokumentation und die nachweisliche Aufklärung des Patienten seien Grundlagen für eine erfolgreiche Durchsetzung der berechtigten Honorarforderungen, mahnte er. Er wies darauf hin, dass zahlreiche Veröffentlichungen über erfolgreich abgeschlossene Behandlungsfälle und keine kollegiale Gegenrede vor Gericht durchaus mit evidenzbasierter Zahnmedizin gleichzusetzen seien.
- Prof. Dr. Dr. Ralf Smeets, Hamburg, sprach über Behandlungsoptionen von morgen, die „ganz wesentlich von dem Einsatz der künstlichen Intelligenz gefördert werden.“ Er arbeitet mit seinem Team an zahlreichen revolutionären Entwicklungen und Patenten – von Schmelz-Matrix-Proteinen über präimplantologische Nährstoffsupplementierung bis hin zu resorbierbaren Knochenschienen und Nägeln.
Den 3. Tissue Master Congress findet am 23. und 24. September 2022 in Nürnberg statt.
Die Experten
Dr. Stefan Neumeyer
seit 1981 niedergelassen in eigener Praxis in Eschlkam, Arbeitsschwerpunkte: Biologisches Gewebemanagement, minimal- und noninvasive Restaurationstechniken
praxis@dres-neumeyer.de
Dr. Sabine Hopmann
niedergelassen in eigener Praxis in Lemförde, Arbeitsschwerpunkte: minimalinvasive Chirurgie, Extrusionstherapie
hopmann@hopmann-maak.de