Gewaltprävention in der Praxis: Wie Sie im Ernstfall richtig reagieren
Angestellte in medizinischen Berufen sehen sich immer häufiger mit gewalttätigen Übergriffen konfrontiert. Wie kann man sich vorbereiten und in einer solchen Situation reagieren? Ein Interview mit Dr. Martin Eichhorn.
Die Gewalt gegen medizinisches Personal nimmt seit ein paar Jahren immer mehr zu. Wieso ist das so?
Eichhorn: In dem Bereich ist es ganz schwer zu spekulieren. Man kann aber insgesamt einen Blick auf die Gesellschaft werfen und feststellen, dass fast alle Berufsgruppen aus der Dienstleistungsbranche, die mit Menschen zu tun haben, damit zu kämpfen haben. Ich mache ja Seminare zur Gewaltprävention in der Praxis für ganz verschiedene Berufsgruppen – und das geht wirklich von der Hebamme bis zum Krematorium. Und zu meinen Kundengruppen zählt auch alles, was dazwischen ist: also auch Mitarbeiter von Jobcentern, Sozialämtern, Schwimmbädern, Gerichten – und eben auch Kliniken, Arzt- und Zahnarztpraxen. Die Zunahme der Gewalt lässt sich nicht nur auf die medizinischen Berufsgruppen beschränken.
In welchen Situationen wird medizinisches Personal beispielsweise angegriffen?
Eichhorn: Ein Faktor ist natürlich immer, wenn Menschen alkoholisiert in die Praxis kommen. Ein weiterer Faktor ist die Sorge um Angehörige – da spielen unter Umständen auch interkulturelle Konflikte eine Rolle. In größeren Praxen oder in Notaufnahmen gibt es das häufiger. Dann gibt es das Problem, dass Patienten häufig bestimmte Abläufe nicht nachvollziehen können. Da würde es helfen, die Menschen besser zu informieren, was als nächstes passiert und mit welchen Wartezeiten sie ungefähr rechnen müssen. Da entsteht Aggression oft aus der Unsicherheit. Selten sind Fehlbehandlungen die Ursache für Gewalt – egal, ob es um tatsächliche oder nur vermutete Fehlbehandlungen geht. Das ist so der grobe Rahmen der Situationen, in denen es zu Konflikten kommt.
Wie kann man sich auf so eine Situation vorbereiten, und welche Reaktionen zur Gewaltprävention in der Praxis empfehlen Sie?
Eichhorn: Mein Rat ist, sich im Vorfeld schon Formulierungen parat zu legen. Wenn man in einer Praxis in einem sozialen Brennpunkt arbeitet, kommt man regelmäßig in solche Situationen und ist in Sachen Gewaltprävention auch schon etwas versierter. Aber auch, wer nur selten beleidigt wurde, sollte das gedanklich mal durchspielen und eine Formulierung auf dem Kasten haben, die man ohne großes Nachdenken einfach abrufen kann, wenn man beleidigt wird. Die Formulierung sollte einem gefallen und zu einem passen. Es reicht im Grunde schon eine ganz minimalistische Reaktion – äußerlich gelassen zu bleiben und einfach mit „so, so“ oder „ach was“ zu antworten. Man kann auch sagen: „Ich helfe Ihnen gern, aber nicht in diesem Ton“ und dem anderen so eine Grenze aufzeigen. Oder wenn man etwas schlagfertiger wirken möchte, kann man auch fragen: „Oh, können wir diesen Teil überspringen?“ oder „Gibt es Sie auch in nett?“. Solche Dinge können schon helfen. Sie können mit dem richtigen Spruch im richtigen Moment Leute mundtot machen. Und wenn Sie beleidigt werden, geht es genau darum: zu zeigen, dass Sie nicht als Opfer bereitstehen.
Aggression entsteht oft aus Unsicherheit. Es hilft, die Menschen besser zu informieren. Dr. Martin Eichhorn
Wie sieht es bei körperlichen Angriffen aus: Wie reagiert man da spontan?
Eichhorn: In unserer Gesellschaft sind gewaltsame Übergriffe zum Glück relativ selten. Das ist großartig – es bedeutet aber auch, dass Menschen in unserer Kultur wenig Erfahrung im Umgang mit tatsächlicher Gewalt haben. Auch wenn es natürlich Dinge wie häusliche Gewalt oder Gewalt gegen Kinder gibt – in Deutschland wird man relativ selten Gewaltopfer und kann sich in der Öffentlichkeit relativ frei bewegen, ohne davor Angst haben zu müssen. Das heißt auch hier: Die meisten Menschen sind komplett überfordert, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden. Naturgemäß ist es so, dass wir Menschen seit Jahrmillionen mit drei verschiedenen Reaktionsformen auf Gewalt reagieren. Erstens: Wenn wir wegrennen können, rennen wir weg. Zweitens: Wenn wir nicht wegrennen können oder das eher unserem Charakter entspricht, dann setzen wir uns zur Wehr und kämpfen. Das Dritte ist die Schockstarre – das heißt, dass man quasi einfriert und sich nicht mehr bewegen kann. Unseren Vorfahren hat das geholfen, weil viele tierische Fressfeinde auf Bewegung reagieren. Heute hilft uns das nicht mehr.
Was kann man denn tun, um im Ernstfall aus diesen Mustern rauszukommen?
Eichhorn: Wie bei den verbalen Übergriffen gilt auch hier: Sie können nur geschickt reagieren, wenn Sie sich mental auf die Situation vorbereiten – im Sinne von: „Wenn jemand hier in meiner Praxis ausrastet – was würde ich dann machen?“ Das sollte man wirklich regelmäßig in Gedanken durchspielen – vielleicht einmal im Monat. Wenn die Situation dann wirklich eintritt, hat man einen Vorsprung – das verschafft Sicherheit und hilft einem, den Angreifer abzuwehren. Abwehr bedeutet nicht in erster Linie, Notwehr auszuüben und den anderen niederzuschlagen. Es bedeutet eher, den Angreifer zu verwirren – denn der Gewalttäter rechnet genau mit diesen drei typischen Reaktionsformen: Flucht, Kampf oder Schockstarre. Und wenn ein Opfer etwas tut, was dem nicht entspricht, überfordert und verwirrt das den Gewalttäter. Das gibt dem Opfer die Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen.
Was empfehlen Sie da zum Beispiel in der Praxis zur Gewaltprävention, um den Angreifer zu verwirren?
Eichhorn: Als Erstes bietet es sich an, Lärm zu machen. Alle Menschen haben Angst vor Lärm. Wenn man also einen Aggressor, bevor er etwas tun kann, volle Kanne anbrüllt, mit allem, was die Stimme hergibt, kann man Menschen tatsächlich in die Flucht schlagen.
Sehr effektiv ist es auch, Ekel beim Angreifer auszulösen. Es hilft also, wenn man plötzlich kräftig hustet und das zu einem Würgen steigert – wenn der Angreifer damit rechnen muss, dass man sich gleich vor seine Füße übergibt. Das ist unfassbar effektiv, weil bei dem Aggressor die alten Reaktionen im Hirn anspringen und er automatisch auf Distanz geht.
Die dritte sehr effektive Technik wäre, glaubwürdig beispielsweise einen Herzinfarkt, plötzliche Blindheit oder einen epileptischen Anfall zu simulieren. Damit kann man einen Gewalttäter auch verwirren und aus seiner Rolle schubsen.
In welchen Situationen raten Sie, die Polizei zu rufen?
Eichhorn: Nach meiner Erfahrung wird die Polizei im gesamten medizinischen Bereich – Notaufnahmen klammern wir mal aus – zu selten geholt. Das medizinische Personal müsste sich klarmachen, dass die Polizei eine Dienstleisterin ist und dass man die einfach holen kann, wenn man selbst nicht weiterkommt. Die Aufgabe der Polizei ist es, solche Probleme zu lösen.
Der Experte
Dr. Martin Eichhorn
ist zertifizierte Fachkraft für Kriminalprävention und zertifizierter Trainer (TU Berlin).