Work-Life-Balance: Krisen vermeiden
Wenn ein Zahnarzt über Jahrzehnte beruflich erfolgreich sein möchte, darf er auch sein persönliches Wohl nicht außer Acht lassen. Das heißt, er muss hinterfragen, wie er nicht nur mit seinem Personal und den Patienten umgeht, sondern auch mit sich selbst. Das Interview mit dem Arbeitspsychologen Dr. Rainer Lindberg informiert über den Einfluss der Work-Life-Balance im zahnärztlichen Alltag – und gibt Tipps zur privaten und beruflichen Krisenvermeidung.
Herr Dr. Lindberg, als Arbeitspsychologe verfügen Sie über langjährige Erfahrungen mit den Belastungen, die Menschen in ihrem beruflichen Alltag erleben. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für ein seelisches Ungleichgewicht bei den Zahnmedizinern?
Lindberg: Nach meiner Erfahrung zeigen Zahnärzte zu Beginn ihrer Karriere ein besonders hohes Engagement. Zuerst ist alles eine Herausforderung, voller positiv empfundener Spannung, aber auch garniert mit vielen Erfolgen. Jeder Patient wird als Person wahrgenommen und ganz individuell behandelt. Nach einigen Jahren – das ist natürlich auch in anderen Berufen so – hält jedoch eine gewisse Routine Einzug. Nun käme es darauf an, neue Ziele zu formulieren, neue Arbeitsfelder zu schaffen und erneut darüber nachzudenken, warum man als Zahnarzt eigentlich das tut, was man tut. Wenn jetzt nicht die gezielte Suche nach mehr Balance im Leben einsetzt, also weg vom „ausschließlich Arbeiten“ hin zur aktiven Suche nach neuen Herausforderungen im Beruf und Privatleben, wird das anfangs hohe Engagement immer mehr als reine Belastung empfunden. Die Betroffenen haben das Gefühl, eigentlich alles zu haben, und sind dennoch unglücklich. Die Folge können Unlust, somatische Störungen, eventuell sogar depressive Verstimmungen sein – kurz: Es treten unter Umständen erste Anzeichen eines Burnouts auf.
Der Begriff der Work-Life-Balance wird immer häufiger genannt. Sehen Zahnärzte überhaupt die Notwendigkeit für einen besseren Ausgleich zwischen ihrem Beruf und anderen Lebensbereichen, und wie kann eine solche Balance aussehen?
Lindberg: Zuerst einmal ist die Fokussierung auf „Arbeit“ und „das übrige Leben“ sicher eine verkürzte Sichtweise. Gewöhnlich ist der Lebensbereich Arbeit/Finanzen nur eine Facette des gesamten menschlichen Lebens, der allerdings gerade zu Berufsbeginn ein besonders starkes Gewicht hat. Als junge Menschen bringen wir außerdem eine gewisse Ausgeglichenheit in vielen Lebensbereichen mit: Wir engagieren uns in unserer Ausbildung oder als Berufsanfänger, treiben Sport beziehungsweise sind mehr oder weniger gesund, suchen nach Lebenspartnern, bilden uns weiter, probieren Dinge aus etc. Die Balance zwischen allen Lebensbereichen ist also größtenteils gegeben. Zur persönlichen Reifung gehört jedoch mehr, als sich ausschließlich auf die beiden Lebensbereiche „Arbeit/Finanzielle Sicherheit“ und „Familie/Freunde/Soziale Kontakte“ zu beschränken. Spätestens ab der Lebensmitte sollten auch andere Bereiche verstärkt in das Blickfeld eines Menschen rücken. Dazu gehören etwa Themen wie die Suche nach dem Sinn unseres Tuns, Spiritualität, Achtsamkeit im Umgang mit dem Selbst und anderen Menschen. Gelingt es dem Zahnarzt, sich mehr auf diese Themen zu konzentrieren, dürften Ungleichgewichte und ihre schädlichen Folgen ausbleiben.
Gibt es Warnzeichen, die dem Zahnarzt signalisieren können, dass er möglicherweise unter einer unausgeglichenen Work-Life-Balance leidet?
Lindberg: Jeder von uns ist mal nicht gut gelaunt oder empfindet zum Beispiel eine Traurigkeit, für die es keine Ursache zu geben scheint. Das ist ganz normal und bietet keinerlei Anlass zur Sorge. Wenn sich solche Verstimmungen aber regelmäßig zeigen oder länger anhalten, sollte man in sich hineinhören.
Um häufig auftretende äußere Störfaktoren oder Mängel auszuschließen, kann sich der Zahnarzt folgende Fragen stellen: Habe ich genug Schlaf? Leide ich unter Einschlaf- oder Durchschlafstörungen? Wie ist mein Umgang mit Alkohol und anderen Suchtmitteln? Esse ich bewusst und gut? Bewege ich mich ausreichend? Vor allem aber: Erlebe ich genügend freudvolle Momente in meinem Leben oder empfinde ich hier einen Mangel? Die Antwort auf die letzte Frage lautet der psychologischen Glücksforschung zufolge: Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Erlebnissen sollte im Idealfall etwa 3:1 sein, also drei schöne Momente für ein Erlebnis, das nicht als positiv empfunden wurde. Wer bei der Beantwortung dieser Fragen feststellt, dass er sich ständig erschöpft fühlt, sein Leben nur noch grau sieht oder sich fragt, warum er sich die Praxis eigentlich noch antut, zeigt erste Anzeichen eines fehlenden Gleichgewichts.
Ein seelisches Ungleichgewicht äußert sich häufig auch im Umgang mit den Mitarbeitern. Wie gefährlich kann eine sich zuspitzende Situation werden, wenn der Zahnarzt nicht aus eigenem Antrieb gegensteuert? Und welche Mittel stehen zur Verfügung, um solche Krisen zu entschärfen?
Lindberg: Ein seelisches Ungleichgewicht äußert sich auf verschiedene Arten. Manche Menschen wirken lethargisch und reagieren nur noch verhalten. Sie ziehen sich in sich selbst zurück und neigen zum Grübeln. Der Mitarbeiter weiß dann oft nicht, „woran er eigentlich ist“ – genauso wenig wie der Patient. Das ist eine unangenehme Situation für alle Beteiligten, die oft nur durch intensive Ursachenforschung und eventuelle psychologische Beratung aufgelöst werden kann. Andere Führungskräfte werden im Umgang mit den Mitarbeitern, aber auch den Patienten zunehmend ungeduldig und lassen sich gehen. Prinzipiell ist nichts dagegen einzuwenden, wenn es einmal „laut wird“ – allerdings nur dann, wenn dies in einer lustigen oder sehr entspannten Situation stattfindet. In diesem Fall kann ein positiver Gefühlsausbruch durchaus eine teamstärkende Wirkung haben. In Belastungssituationen wird ein reifer und in sich ruhender Chef jedoch niemals laut, denn er würde damit das einseitige Machtgefälle in der Kleingruppe Zahnarztpraxis zum Nachteil aller Nicht-Führungskräfte und zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen. Das ist kein geeignetes Führungsinstrument. Unbeherrschtheit ist grundsätzlich ein Zeichen der Schwäche beziehungsweise Ausdruck persönlicher Unreife. In einer Krisensituation – abgesehen von akuten Notfällen – sind alle Beteiligten gut beraten, erst einmal bewusst von der Situation zurückzutreten. Wenn beispielsweise eine verbale Kommunikation auszuufern droht, helfen Schweigen, eine längere Pause oder andere deeskalierende Kommunikationsformen, auch körpersprachlicher Art. Diese Fertigkeiten sind selten angeboren und müssen in der Regel erlernt werden. Auch Menschen mit dem sprichwörtlich feurigen Temperament lernen sich durch Training und entsprechende Kurse besser zu kontrollieren, was zu hoher Anerkennung führt. Denn genau diese Zurückhaltung und Selbstbeherrschung meinen Mitarbeiter und Patienten, wenn sie von einer Führungskraft sagen, sie könne zuhören und nehme andere Personen bewusst wahr. Dieses „ Königskompliment“ bringt einer Zahnarztpraxis auch wirtschaftlichen Erfolg, denn medizinische Fachkompetenz können nur wenige richtig einschätzen, gute Sozialkompetenz erkennen fast alle Menschen.
Gibt es Beispiele aus Ihrem Alltag für den Einfluss einer negativen Work-Life-Balance auf das Arbeitsklima und den Workflow in der Zahnarztpraxis?
Lindberg: Besonders in Praxen, in denen mehrere Partner/Behandler tätig sind, können unterschiedliche Auffassungen darüber, was unter Work-Life-Balance zu verstehen sei, zu starken Verwerfungen führen. Beispielsweise sieht einer der Partner das Zentrum seines Seins ausschließlich in der Praxis. Er ist noch jung und stellt alles andere erst einmal hintan. Ein anderer Partner wiederum möchte sich mehr um seine Familie und andere Lebensbereiche kümmern. Diese abweichende und oft sogar unbewusste Einstellung zur Work-Life-Balance wird aber zwischen beiden nie grundlegend erwähnt. Früher oder später ist dann das Arbeitsklima belastet. Es werden Allianzen geschmiedet, Koalitionen unter den Mitarbeitern entstehen und die Patienten beginnen sich in dieser angespannten Atmosphäre unwohl zu fühlen. Lösen lassen sich solche Schwierigkeiten meist durch Hilfe von außen. Das kostet zwar ein Honorar, verhindert aber einen langwierigen „Rosenkrieg“. Aus meinem Berateralltag weiß ich von einer solchen Auseinandersetzung, die insgesamt sechs Jahre gedauert hat. Gerade im Hinblick auf Praxispartnerschaften – wie auch immer diese juristisch gestaltet sind – empfiehlt sich nach meiner Meinung ein intensiver Abgleich der jeweiligen Vorstellungen zu Zielen und Aufgaben der Praxis. Und zwar möglichst bevor die Verträge unterschrieben sind. Ich denke hier erst in zweiter Linie an betriebswirtschaftliche und juristische Parameter, sondern zuerst einmal an die Bereiche „Work-Life-Balance“ und „Soft Skills“. Dazu gehören Führungstechniken, Kommunikationsformen, Fragen der Gewinnmaximierung oder -optimierung, der Fortbildung etc. Vor allem aber auch die Beantwortung von Fragen, die sich auf die geplante Lebensgestaltung der Partner erstrecken. Gibt es hier unerkannte Ungleichgewichte und ist ein für die Praxis nachteiliger Konflikt so vorprogrammiert? Bei Einstellungsgesprächen sollten ebenfalls Fragen zur persönlichen Work-Life-Balance der Bewerber – soweit sie legal sind – gestellt werden. Selbstverständlich werden sich gerade bei langfristigen Partnerschaften und Anstellungen auch Veränderungen in den einzelnen Lebensbereichen und -entwicklungen ergeben. Hilfreich wäre es jedenfalls, wenn schon im Vorfeld jeder „Ehe“ – sei es eine Praxispartnerschaft oder ein Arbeitsverhältnis – festgelegt würde, was zu tun ist, wenn sich bei einem Kollegen wichtige Veränderungen im Sektor Work-Life ergeben sollten. Sonst sehen sich Praxispartner schnell vor dem Kadi wieder oder geschätzte Mitarbeiter verlassen die Praxis.
Dipl.-Kfm. Christian Henrici
ist Mitbegründer und Geschäftsführer der OPTI Zahnarztberatung GmbH. OPTI hat sich auf Betriebswirtschaft, Organisation, Marketing sowie Führung & Personal für die Zahnarztpraxis spezialisiert. Henrici schreibt regelmäßig Fachbeiträge und ist Autor des Buchs „Wer braucht schon gutes Personal?“.
Kontakt: henrici@opti-zahnarztberatung.de