Diskussion über Zahnseide

Auf dem Prüfstand: Zahnseide

Seit mehr als 200 Jahren gibt es Zahnseide. Trotzdem existieren nach wie vor keine Studien, die die Wirksamkeit dieses Hilfsmittels eindeutig belegen. Genau darum wurde das Fädeln 2016 aus den offiziellen amerikanischen Gesundheitsempfehlungen gestrichen. Hat das heute Auswirkungen auf die deutsche Praxis?



Als sich Julia Roberts in „Pretty Woman“ ins Badezimmer zurückzog, um Zahnseide zu benutzen, war Richard Gere mehr als erstaunt. Denn 1990, als der Hollywoodklassiker in die Kinos kam, galt diese Methode noch als total altmodisch. „Zahnseide war in meiner Jugend richtig out“, erinnert sich die 35-jährige Yvonne Gebhardt. „Zu meinem Erstaunen griff meine Mutter – sie war Zahnarzthelferin – manchmal auf diese Technik zurück, allerdings nahm sie dafür einen einfachen Bindfaden.“

Erst im Zuge der verstärkten Prophylaxe eroberte der dünne Faden nach und nach wieder die Münder. Wie viele Patienten genau fädeln, weiß man nicht. Die durch Umfragen ermittelten Werte schwanken zwischen acht und 24 Prozent. Doch 2016 meldeten verschiedene deutsche Zeitungen, Zahnseide sei nutzlos. Die Süddeutsche veröffentlichte ihren Artikel zu diesem Thema sogar in der Rubrik „Mythos des Monats“. Dies führte zu einiger Verwirrung unter den Patienten, von denen viele auf die oft ungeliebte Zahnseide lieber heute als morgen verzichten würden. Was sind die aktuellen Empfehlungen deutscher Experten heute, einige Monate später?

Empfehlungen deutscher Experten zur Zahnseide

„Diese Debatte macht nicht so sehr die Schwächen dieses Hilfsmittels deutlich, sondern das Fehlen von Beweisen“, erklärt Prof. Dr. Michael Noack. Der Gebrauch von Zahnseide lasse sich methodisch nicht mit pharmakologischen Studien beispielsweise über Blutdrucksenker vergleichen. „Es ist immer der Indianer und niemals der Pfeil, der trifft“, betont der Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie des Klinikums der Universität zu Köln. Denn ob ein Füllfederhalter eine schöne oder hässliche Schrift hervorbringe, habe doch schließlich auch mehr mit dem Schreiber zu tun, als mit dem Werkzeug.

Fingerfertigkeit gefragt

Es kommt eben vor allem aufs Handling an. Und genau darin liegt auch die Schwierigkeit bei dieser Reinigungstechnik: „Die Anwendung von Zahnseide erfordert ein hohes Maß an Geschicklichkeit, Training, Ausdauer, Disziplin und räumliches Vorstellungsvermögen“, erläutert Prof. Dr. Christof Dörfer. Man könne, so der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie e. V. (DG PARO), dies mit der Reinigung eines Geländer-Handlaufs durch eine Schnur vergleichen: „Wer sich das vorstellt, kann erahnen, was hier dem Anwender abverlangt wird.“ Erschwerend komme hinzu, dass das noch mit einer eingeschränkten Sichtkontrolle und auf kleinstem Raum erfolgen müsse.

Geeignetes Werkzeug

Die Frage ist also, welches Werkzeug geeignet ist. Dörfer plädiert daher dafür, es zuerst mit Bürstchen zu versuchen: „Für die meisten Menschen sind Interdentalbürsten besser geeignet. Vor allem sind sie einfacher anzuwenden als Zahnseide. Auch wurde dieses Hilfsmittel in den vergangenen dreißig Jahren wirklich weiterentwickelt und ist auch in kleinen Zwischenräumen einsetzbar.“ Die modernen Interdentalbürstchen reinigen seiner Auffassung nach außerdem effektiver – vorausgesetzt, die Größe wurde korrekt bestimmt. „Das macht die adäquate Pflege der Zahnzwischenräume für einen wesentlich größeren Teil der Bevölkerung umsetzbar. Dennoch gibt es Situationen, in denen Zahnseide das beste Hilfsmittel ist“, sagt der Direktor der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Kiel.

Praktische Alternativen

Prophylaxepraktiker wie Dentalhygienikerin Gebhardt sehen die Zahnseide dagegen generell etwas positiver. Die Münchnerin empfiehlt das alte Hilfsmittel gerne, wenn auch nur in bestimmten Fällen. Denn sie macht dies von Alter und Geschicklichkeit der Patienten abhängig: „Wenn jemand fit in der Motorik ist, versuche ich es erstmal mit Zahnseide. Rund 30 Prozent nehmen das an und bekommen es auch gut hin. Bei Älteren, die ihre Finger schon schlechter bewegen können, fange ich aber gar nicht mehr damit an.“

Auch Noack findet, man könne es ruhig zunächst mit Zahnseide probieren. Wenn der Patient aber beim nächsten Zahnarztbesuch die Rückmeldung bekomme, dass dies nicht klappt, sollte man schnell auf ein anderes Mittel wechseln. Allerdings hält er den AirFloss für die bessere Alternative. „Wir von der Universität Köln haben kürzlich eine Studie in Kooperation mit der Universität Witten/Herdecke publiziert, die die Wirksamkeit des AirFloss Ultra belegt. Darin bekommt die einfach zu bedienende Wasserpistole außerdem hervorragende Werte in puncto Adhärenz, die im Gegensatz zum veralteten Begriff Compliance den selbstbestimmten Patienten stärker berücksichtigt.“ Letzteres kann Gebhardt aus ihrer Erfahrung bestätigen, wenn auch nur bei männlichen Patienten: „Einige meiner Patienten finden die Technik megacool, und dann machen sie wenigstens etwas.“

Individuell beurteilen

In einem Punkt sind sich jedoch alle Experten einig: wenn Zahnseide, dann nur für Patienten mit relativ engen Zwischenräumen. Vor allem bei ganz schmalen Approximalräumen, in die auch das feinste Bürstchen nicht hineinkommt, bleibt der Faden bis heute das einzige Hilfsmittel, mit dem die interdentalen Zahnoberflächen erreicht werden können. Dabei eignet sich das ganz dünne Teflonband nach Gebhardts Meinung nur für Patienten mit perfekter Mundhygiene.

Auch die manchmal in Zeitschriften und Internet heraufbeschworene Verletzungsgefahr durch Zahnseide sehen die Experten nicht: „Eine zu aggressive und unsachgemäße Anwendung kann doch bei jedem Hilfsmittel zu Traumatisierungen führen“, fasst Dörfer zusammen. Auch sei die Gingiva schließlich darauf ausgelegt, mechanische Belastungen auszuhalten. Statt „Angstmache“ sei es viel wichtiger, dass die interdentale Reinigung für die Patienten genauso selbstverständlich werde wie das Zähneputzen. „Und dieses Bewusstsein müssen wir erst noch schaffen“, fordert Dörfer.

Fakt bleibt: Irgendetwas braucht der Mensch! Denn wer den Biofilm im Zahnzwischenbereich nicht beseitigt, bekommt bestimmt Probleme. Dies muss – laut Dörfer – mindestens einmal alle 24 Stunden geschehen, egal ob morgens oder abends, und zwar ohne Zahnpasta, da diese zu einem stärkeren Abtrag der Zahnhartsubstanzen führen kann. Was dem Patienten dafür am besten dient, ist letztlich nur individuell zu beurteilen. DH Gebhardt beispielweise hat eine Patientin, die Goldschmiedin ist und täglich filigrane Arbeiten mit ihren Händen ausführt. „Sie kommt mit Zahnseide super zurecht. Warum sollte ich die umstellen? Ich habe aber auch Patienten, die regelmäßig fädeln und dann sieht es aus, als hätten sie drei Jahre nichts getan“, konstatiert die erfahrene Fachkraft.

Zur Beurteilung und gegebenenfalls zur Re-Instruktion ist die regelmäßige PZR die optimale Gelegenheit. „Gerade im Molarenbereich gibt es häufig Einziehungen im Zahn. Einige sind erhaben, andere konkav, manchmal liegt die Wurzel frei, da komme ich in der Regel mit dem Bürstel besser zurecht, weil das in alle Nischen reingeht“, sagt Gebhardt. Auch bei PA-Patienten sei das Bürstchen eher angeraten, rät die Dentalhygienikerin, denn: „Wenn das Zahnfleisch schon weit zurückgegangen ist, schafft man das oft nicht mehr mit Zahnseide.“

Sind Studien machbar?

Doch warum ist die Studienlage eigentlich so dürftig, übrigens auch bei Interdentalbürstchen? Dörfer: „Wir sehen sehr wohl den Nutzen einer guten Zahnzwischenraumpflege bei unseren Patienten. Doch die derzeit geführte Diskussion ist zu akademisch. Es wird nicht berücksichtigt, ob die geforderten Standards für Studien in diesem Fall überhaupt umsetzbar sind.“

Denn eine doppelt verblindete Zahnzwischenraumreinigung sei nicht machbar. Der Patient wisse schließlich, ob und womit er seine Zwischenräume gereinigt hat oder nicht, begründet Dörfer und gibt einen Ausblick: „Derzeit lassen sich enorme Fortschritte bei der Entwicklung alternativer Instrumente zur Zwischenraumreinigung beobachten.

Es kann durchaus sein, dass in ein paar Jahren die Empfehlungen angepasst werden, weil noch bessere Hilfsmittel verfügbar sind.“ Seiner Meinung nach ist die Debatte um den Nutzen der Zahnseide völlig unnötig hochgekocht – und das Streichen der Zahnseide war eine Überreaktion.

Prof. Dr. Michael Noack
Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universitätsklinik Köln.
michael.noack @uk-koeln.de

Prof. Dr. Christof Dörfer
Direktor der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie, Kiel, seit 2016 Präsident der DG PARO.
Christof.Doerfer @uksh.de

Yvonne Gebhardt
Dentalhygienikerin in München, selbstständige Praxistrainerin im Bereich Prophylaxe, Gründerin des Münchner Seminarzentrums „DH-Seminare Yvonne Gebhardt“.
info@coaching-prophylaxe.de